Jan Kuhlbrodt

Das Elster-Experiment

Sieben Tage Genesis

Vogelschwärme, Atomkriegsangst: Jan Kuhlbrodt, Philosoph und Lyriker aus Leipzig, erforscht in seinem so theoretischen wie alltagsnahen siebenteiligen Essay die heutige Bedeutung des Schöpfungsmythos. Die Vorarbeit dazu fand sieben Tage lang auf einem Blog mit anderen Netzschreibern statt.

2,99 

2,99  E-Book

etwa 220 Seiten auf dem Smartphone

ISBN 978-3-944543-04-8
E-Book

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Juni 2013

„Historisch, philosophisch, biografisch, lyrisch. Mittendrin in einem Denkprozess ist man da.“
Lucy Fricke, Berliner Morgenpost

„Brillianter Essay.“
André Gstettenhofer, Schweizer Monat

„Das ist Literatur, aber interaktiv. Einige der Kommentare sind im E-Book mit veröffentlicht, so ist der Leser nahe dran am Denkprozess des Autors. Und so schafft es dieser auf ganz besondere Art, den Leser zum Denken anzuregen, vielleicht sogar zum Mitdenken, fast so, als könne er auch jetzt noch den Text beeinflussen.“
Sophie Sumburane, Culturmag

Inhalt: Schöpfungstheorie

Geschickt schlägt Jan Kuhlbrodt einen großen Bogen, von seinem Aufwachsen in der DDR und der ersten Begegnung mit dem österreichischen Lautpoeten Ernst Jandl über den Zusammenhang zwischen Religion, Macht und Aufklärung bis hin zur Frage, warum eine Elster in der Lage ist, einen Zettel mit Hilfe eines Spiegels von ihrem Rücken zu entfernen – wo also Menschliches aufhört und Tierisches beginnt.

In seinen Zugängen zu Schöpfungstheorie und Genesis spiegelt Kuhlbrodt die Reproduktion des Urmythos im Teilchenbeschleuniger, im WWW und in der Vielsprachigkeit der Menschen. Sein theoretisches Rüstzeug sind u.a. Platon, Descartes, Adorno, Wittgenstein und Derrida. Eine Auswahl der Netz-Kommentare am Ende jedes Kapitels (oder Schöpfungstages) zeigt exemplarisch, in welche Richtungen Kuhlbrodts Reflektionen weitergedacht werden könnten.

Weiterlektüre: Jan Kuhlbrodts Essay inklusive Bob-Dylan-Facebook-Kurzroman Über die kleine Form. Lesen und Schreiben im Netz.

Der zweite Tag

Das Wort.

Da in der jüdisch-christlich-muslimischen Überlieferung das Wort an erste Stelle tritt, scheint es naheliegend zu sein, sich mit der Schöpfung in und mit Worten auseinanderzusetzen. Hier wird im Grunde die Welt mit Kunst, vor allem mit der Literatur schon enggeführt. Die Welt als Sprachwerk gewissermaßen schlägt sich auch in den europäischen und angelsächsischen Philosophien nieder, physikalisch unterfüttert.

Die Kunde vom Urknall macht die Runde. Die Welt rundet sich, und der Apfel ist nicht mehr ein Zeichen der Sünde, sondern er dient der Illustration der Newtonschen Physik.

Zumindest die Texte der abendländischen Philosophietradition sind voller Vertrauen zum Wort. Wenn man davon ausgeht, dass René Descartes 1641 mit seinen Meditationen über die Grundlagen der Philosophie so etwas wie einen Starttext philosophischer Moderne geschaffen hat, dann setzt sie mit dem Zweifel ein. Descartes zweifelt an allem, an sich, an seinen Wahrnehmungen, an der Existenz einer Außenwelt, sogar an Gott. Letzteres hat ihm zu einigen politischen Verwicklungen verholfen und ließ ihn Europa als Flüchtender durchstreifen, wie es immer wieder Zweifelnden erging, egal, ob sie sich skeptisch gegenüber religiösen oder politischen Wahrheiten zeigten. Man kann sagen, die Zweifler treffen sich immer wieder und zweifeln gemeinsam, sie zweifeln sich gewissermaßen gegenseitig an, letztlich aber bilden sie die Gemeinschaft, die durch alle Dogmen hindurch bestand hat. Die Community der Zweifler, die sich, weil sie nichts gelten lässt, immer wieder selbst und neu hervorbringt.

Aber zurück zu Descartes und zur Sprache. An einem Punkt nämlich hörte der Philosoph auf zu zweifeln. Beim „Ich denke!“. Und er prägte den Satz „Cogito ergo sum“, der in den verschiedensten Spielarten durch die abendländische Geistesgeschichte geisterte und wahrscheinlich nicht nur durch diese. Sicher findet sich dieser Satz auch früh ins Chinesische und Arabische übersetzt. Jemand sagt vor sich hin: „Ich denke, also bin ich.“ Und die ganze Welt nickt. Eine philosophische Kolonialisierung gewissermaßen.

Denken aber ist auch ein inneres Sprechen, benutzt Sprache, ist Sprache. Indem Descartes denkt, und er denkt, er setze das Cogito (das denkende Ich) absolut, verabsolutiert er im Grunde doch eher die Sprache. Noch bleibt für ein paar hundert Jahre dieses Ich nicht hinterfragt, jenes gottgleiche Subjekt, das denkend am laufenden Band gedachte Welten hervorbringt. Nach Descartes ist immer Schöpfung. Gedankenschöpfung. Dass mittelalterliche Bild eines Prozesses, der von Gott ausgeführt in sieben Tagen das hervorbringt, was wir die Welt nennen, kommt in Bewegung. Die Planeten stehen nicht mehr still, neben die Sonne treten andere Sonnen, die Tier und Pflanzenarten bekommen eine Geschichte und der Mensch entdeckt im Affen sich selbst.

Aus der Schöpfung werden Geschichten. Aus dem übergroßen ER wird ein großes Ich.

Aber auch dieses Ich gerät im neunzehnten Jahrhundert in die Krise. Es traut sich nicht mehr, sich und seiner Subjektivität, ein wenig verliert es an Selbstkontrolle, weil es feststellt oder zumindest befürchtet, dass nicht die Sprache ihm, sondern dass es der Sprache anhängt. Die Worte zerfallen ihm im Mund und mit den Worten ein weiteres Mal seine Gewissheit, es sei es selbst, das denkt.

Bei Hugo von Hofmannsthal, im berühmten Lord-Chandos-Brief, geschrieben und erschienen 1902, heißt es:

„Es möchte dem, der solchen Gesinnungen zugänglich ist, als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, daß mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmuth und Kraftlosigkeit zusammensinken mußte, welches nun die bleibende Verfassung meines Inneren ist. Aber dergleichen religiöse Auffassungen haben keine Kraft über mich; sie gehören zu den Spinnennetzen, durch welche meine Gedanken durchschießen, hinaus ins Leere, während so viele ihrer Gefährten dort hangen bleiben und zu einer Ruhe kommen. … Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. … Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“

Die Sprache selbst scheint sich dem denkenden Ich zu entziehen und mit der Sprache die Welt und der Gedanke. Es wird ausgehöhlt, aufgeblasen und zerplatzt. Also zweifelt das denkende Ich nunmehr an sich selbst. Es verliert seine Göttlichkeit, und Freud macht es zu einem Ding, eingeklemmt zwischen Über-Ich und Es. Zwischen Sprache und gesellschaftlicher Konvention. Das Ich beginnt so an sich selbst zu zweifeln und die Neurose wird zu seinem Normzustand. Um sich zu heilen, legt es sich auf die Couch und spricht mit dem Therapeuten, der wiederum es selbst ist. Nach dem Motto der alten Griechen, dass das Schwert die Wunde heilt, die es schlug, entlädt es sich in Sprache, versucht, sich selbst erneut hervorzubringen, erzählt sich seine Geschichte. Aber auch das hilft nicht:

Jean-Paul Sartre lässt seinen Protagonisten im Roman „Der Ekel“ (1968), der als eines der wichtigsten Werke des Existenzialismus gilt, konstatieren:

„Und es stimmte, ich war mir dessen immer bewusst gewesen: Ich hatte kein Recht zu existieren. Ich war zufällig erschienen, ich existierte wie ein Stein, eine Pflanze, eine Mikrobe. Mein Leben wuchs aufs Geratewohl und in alle Richtungen. Es gab mir manchmal unbestimmte Signale; dann wieder fühlte ich nichts als ein Summen ohne Bedeutung.“

Was bleibt oder kommt, ist die Sprache. Aus dem Summen quillt Gesang. Selbstbewusst betritt sie als Protagonistin das Feld. Ihre Agenten sind der Linguist Ferdinand de Saussure und der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Der erste macht die Sprache zum Gegenstand seiner Forschung und untersucht sie gewissermaßen als Ereignis abseits unseres Wollens. Er dreht den Spieß einfach um, nicht wir sind Schöpfer der Sprache, sondern wir sind ihre Geschöpfe. Die Sprache spricht sich fortan selbst. Dass im Anfang ein Wort war, bekommt eine ganz andere Bedeutung. Denn dieses Wort war Gott, der sich somit selbst aussprach, selbst hervorbrachte.

Und der zweite, Wittgenstein, macht aus der Sprache die Welt. In seinem Tractatus logico-philosophicus (1922 zweisprachig erschienen) formuliert er es negativ, vom Ende her: „Meine Welt endet, wo meine Sprache endet.“ Aber auch: „Alles was ich sagen kann, kann ich klar sagen.“ Damit fällt er natürlich den Neurotikern Hofmannsthal und Sartre ins Wort, aber wir sind im 20. Jahrhundert angekommen. Letztlich wird in dessen zweiter Hälfte das Subjekt etwas entlastet und einige Verantwortung wird der Struktur übergeholfen, was natürlich zu einer Entzauberung von Diktatoren und Parteien mit Alleinvertretungsanspruch führte.

(…)

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Der Autor

Jan Kuhlbrodt, 1966 in Karl-Marx-Stadt geboren, studierte politische Ökonomie, Philosophie und Soziologie in Leipzig und Frankfurt am Main sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Von 2007 bis 2010 war er Geschäftsführer der Literaturzeitschrift Edit und Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut. Zuletzt veröffentlichte er die Gedichtbände Stötzers Lied (2013) und Kaiseralbum (2015), den Essay Geschichte (2014), das E-Book Überschreibungen (2016) mit Martin Piekar (alle Verlagshaus J. F. Frank) und den Roman Das Modell (Nautilus 2016). Bei mikrotext erschien 2013 der kollaborative Genesis-Essay Das Elster-Experiment, auf einem Blog entstanden. Kuhlbrodt betreibt den Blog postkultur.wordpress.com. Er lebt in Leipzig und wurde 2014 mit dem sächsischen Literaturpreis ausgezeichnet.

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