Vorschau

Undine Materni

Vom Folgen und Bleiben

Erzählungen

Endlich alle Erzählungen der Dresdner Autorin Undine Materni in einem Buch versammelt: Vom Folgen und Bleiben verknüpft vier Generationen in Ostdeutschland miteinander in der Frage, wie man als Frau in der Gesellschaft, die einen umgibt, ist, existiert, sich entwickelt. Eine Suchbewegung durch die Zeit.

18,00 

18,00  Hardcover

100 Seiten

ISBN 978-3-948631-36-9
Hardcover

100 Seiten

Juli 2023

„Undine Materni war in ihrem Leben Sportlerin, Chemikerin, Kellnerin, Wirtin, Herausgeberin. Doch vor allem ist sie eine Schriftstellerin, die Aufmerksamkeit verdient.“
Joachim Scholl, Deutschlandfunk Lesart

„Wie lässt sich eine Sprache finden, um einem Leben gerecht zu werden? Wo die meisten von uns vergeblich darum ringen, benötigt Undine Materni nur eine Gardine, den Geruch von Weichspüler und die Erinnerung an Heringe, um ein ganzes Leben in all seiner Einzigartigkeit sichtbar zu machen.“
Christine Koschmieder

Inhalt: Familie

Vier Erzählungen darüber, wie Generationen zusammenhängen: Da sind die aus Schlesien nach Ostdeutschland geflohenen Großeltern mit ihrem prächtigen Garten und dem Pastorenhaushalt, die sich mit kleinen Gesten bei ihrer harten Arbeit beiseitestehen. Da ist die Mutter, die in der für Alleinstehende harten Gesellschaft verbittert. Die Tochter geht mit ihrem eigenen starken Willen weiter, und schließlich kommt ein Kind, das wieder vieles aufwühlt, aber auch Platz macht für Neues. 

So geht also Erwachsenwerden, denkt die Frau, alles wird kleiner. Sie sieht den Jungen neben sich an, seine Gestalt wirkt jedoch wie immer.

Den Weg zur Siedlung im Süden wünscht sich die Frau lang, doch ahnt sie, dass auch er von dem Kleinerwerden nicht ausgenommen sein wird. In dieser Stadt gibt es keine Katzen, vielleicht weiß ich deshalb so wenig über ihr Frohsein. Der Junge zieht seinen gelben Teddybären aus dem Rucksack. So sieht es hier aus, Theo, sagt er zu ihm.

Sie haben die Siedlung erreicht. Zum Haus der Mutter führt ein schmaler Weg einen Berg hinauf. Der Name der Straße, in der das Haus steht, wurde schon ausgetauscht. Den neuen hatte sie aber schon wieder vergessen. Also sagt sie zu dem Jungen: Das ist die Leninstraße. Das ist, sagt der Junge zum Bären: Theo, die Leninstraße.

Wieder etwas, was nicht stimmt, denkt sie, wie mit den Katzen, aber hier gab es nie Katzen, als ich klein war und die Straße so hieß. Aber jetzt ist es noch immer dieselbe Straße, die aber anders heißt und die Halstücher von den Hälsen sind ebenso verschwunden wie das Immerbereit mit Ausrufezeichen. Hinter dem Haus der Mutter steht noch immer die Schule, in die sie und ihre Schwester gegangen waren. Dort lernen die Kinder noch immer etwas über Dreiecke und Kreise.

Die Halstücher waren auch einmal ausgewechselt worden, plötzlich waren sie rot und schmolzen unter dem Bügeleisen. Die anderen waren blau gewesen und schmolzen nicht und wurden von den Müttern gebügelt, ehe sie um die Hälse geknotet wurden, aus denen das Immerbereit mit Ausrufezeichen kroch.

Einmal hatte die Frau sich selbst am Bügeln versucht und hielt plötzlich nur noch die Hälfte des roten Stoffdreiecks in der Hand. Erschrocken stellte sie das heiße Bügeleisen in den Kleiderschrank zurück und schmolz dabei riesige Löcher in die Kittelschürzen der Mutter. Fast wäre der Schrank abgebrannt, als sie unterwegs war, um ein neues Stoffdreieck zu kaufen. Die Treppen runter, zwei Mark aus dem Sparschwein in der Faust, war sie den Weg hinuntergerannt, den sie jetzt mit dem Jungen hinaufläuft, das Wort Leninstraße auf der Zunge balancierend, so als
dürfe es nicht noch einmal aus ihrem Mund fallen. Aus dem Mund des Jungen klingt er wie der Name seines Teddybären – freundlich und gelb.

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Die Autorin

Undine Materni, geboren 1963 in Sangerhausen, arbeitete nach einem Chemiestudium als Forschungsingenieurin, Altenpflegerin, Kellnerin und war Mitherausgeberin der Dresdner Literaturzeitschrift reiterIn. Von 1990 bis 1993 studierte sie am Literaturinstitut Leipzig. Sie lebt als Autorin, Literaturkritikerin und Lektorin in Dresden. 2000 erhielt sie den Literaturpreis des MDR und 2008 den Literaturförderpreis des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt Wünschen und Wollen. Gedichte (tauland, 2018), Das abwesende Haus meines Vaters. Ein Gedicht (SagenhaphterVerlag, 2019). Bei mikrotext sind ihre Erzählungen erschienen Friedas Himmelfahrt und Wieder ein Tag ohne Krieg. Im Sommer 2023 erscheint ihr Erzählungsband Vom Folgen und Bleiben bei mikrotext.

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