Aboud Saeed
Lebensgroßer Newsticker
Szenen aus der Erinnerung
Aboud Saeed, „eine der wichtigsten Stimmen der jungen syrischen Generation“ erzählt poetisch und in seinem lakonischen Humor von seiner Kindheit in Syrien, das es so nicht mehr gibt. Über die Schulzeit in einer Diktatur und das Finden der eigenen Autorenstimme trotz aller Widrigkeiten
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„Aboud Saeed ist nicht nur der ‚Der klügste Mensch im Facebook‘, sondern einer der besten Schriftsteller der Welt.“
ARTE Tracks
„Saeed ist eine der wichtigsten Stimmen der jungen syrischen Generation.“
Zenith
„Große wilde Geschichten von einem freien Autor.“
radio eins
Inhalt: Kindheit in Syrien
Zaubercreme, das Spuckspiel und die Ankunft von Skype: In seiner ersten Sammlung mit Erzählungen nimmt der syrische Autor Aboud Saeed uns ins seine Kindheit im Norden Syriens, die Schulzeit unter dem Baath-Regime, in sein Gastarbeiterdasein im Libanon, an den Anfang des Krieges, die Flucht in die Türkei und bis zur Ankunft in Deutschland mit.
Anekdoten aus dem Alltag wechseln sich mit „open texts“ (Aboud Saeed) ab, die an seine Facebook-Statusmeldungen, formal freie, direkt den Leser ansprechende, rhythmische Texte erinnern, eine experimentelle Mischung aus Prosa, Geschichte, Erzählung und „Delirium“, so nennt es der Autor.
Die verrückten Gestalten, die ihm begegnen und ihn beeindrucken, sind die Hauptfiguren der Szenen.
Sie machen den syrischen Alltag in den 90er und 00er-Jahren erlebbar, „eine Zeit tiefer Ignoranz, Marginalisierung der Bürgers, Ermordung der menschlichen Seele“, der „sozialen Korruption und des Chaos im Schatten einer Familiendiktatur“. Alle Ereignisse haben sich „vor dem Hintergrund dieses stetigen Verfalls zugetragen“.
Die Texte berichten nicht auf direkte Art und Weise vom Krieg, sondern mit Hilfe der Konflikte innerhalb der eigenen vier Wände, auf der Straße, am Arbeitsplatz oder in der Schule. „Die kleinen Nebenkriege sind Echos der großen Kriege“, sagt Aboud Saeed.
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Weitere neue syrische Literatur aus unserem Programm: Rasha Abbas‘ mit den hochgelobten Erzählbänden Eine Zusammenfassung von allem, was war und Die Erfindung der deutschen Grammatik, sowie Assaf Alassaf und seine komische Freundschaftsgeschichte zwischen einem deutschen Botschafter und einem Flüchtling Abu Jürgen. Ebenso ist da Aboud Saeeds erste Veröffentlichung, als E-Book und Buch, Der klügste Mensch im Facebook.
Eingetrockneter Stift
Buchstaben sind Bakterien, planlos aufgereiht auf der weißen Fläche der Word-Datei oder des Papiers. Dann kommt die Sprache und gibt diesen Bakterien ihre Existenzberechtigung. Ich hatte Angst vor dem Schreiben. Angst vor Stiften. Vor Heften. Vor Büchern. Ich hasste Buchläden. Ich hasste die Schule. In der Grundschule war die höchste Note, die ich je im Diktat bekommen habe, vier von zehn Punkten. Und die vier Punkte kamen alle von Präpositionen.
Einmal verlangte der Arabischlehrer von uns, einen Aufsatz zu schreiben. Er war sehr streng und hatte einen Stock, mit dem er immer auf die faulen Schüler einschlug. Mein Heft war ein Heft für alle Schulfächer, wo ich alles durcheinander hineinschrieb. Von den Schulheften der anderen hob es sich besonders durch die roten Fettflecken darin ab, von der Paprika- oder Tomatenpaste meiner Schulbrote.
Die Schüler pflegten ihre Hefte mit Zeichentrickfiguren zu verzieren, während ich meine mit Fotos von Lenin und Marx beklebte – wobei ich nicht wirklich wusste, wer die beiden waren. Aber ich mochte ihre Köpfe, sie machten großen Eindruck auf mich. Außerdem, wer ist schon diese Heidi? Wer ist Sandybelle? Wer sind Belle und Sebastian? Wer seid ihr überhaupt?
Wenn meine Mitschüler mich nach den Bildern auf meinem Heft fragten, pflegte ich zu sagen: „Das ist mein Onkel, Scheikh Marx.“ „Ah. Ist der tot?“ „Ja, er ist gestorben.“ „Gott hab ihn selig!“
Einmal kam ich gerade ins Klassenzimmer, als mich ein Mitschüler fragte, ob ich meine Hausaufgaben gemacht hätte, was natürlich wie üblich nicht der Fall war. Ich borgte mir schnell einen Stift aus, doch schon kam der Lehrer herein. „Aufstehen! … Setzen!“ Der Lehrer setzte sich auf seinen Stuhl, legte den Rohrstock vor sich aufs Pult, und ich hatte noch immer kein Wort geschrieben. Das Thema des Aufsatzes war „Märtyrer“. Als ich versuchte zu schreiben, ging der Stift nicht. Die Tinte war eingetrocknet. Ich schrieb trotzdem. Ich schaffte es, den ganzen Aufsatz durch den bloßen Abdruck des Stifts auf dem Papier zu verfassen. Dann rief der Lehrer einen Schüler auf. Wir sollten unsere Aufsätze laut vorlesen. Schließlich war ich an der Reihe. Ich nahm mein Heft und stieg aufs Katheder. Das Portrait meines Onkels Scheich Marx prangte auf dem Hefteinband, der wiederum mein Gesicht vor der Klasse verbarg.
Ich begann, meinen Aufsatz vorzulesen: „Ich suche Zuflucht bei Allah vor dem gesteinigten Satan. Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen. Meine ja nicht, diejenigen, die auf Allahs Weg getötet worden sind, seien wirklich tot. Nein! Vielmehr sind sie lebendig bei ihrem Herrn und werden versorgt. Auf den Straßen trägt jeder Passant einen Sprengstoffgürtel und alle Fahrzeuge sind Autobomben. In jedem Haus, jedem Garten, jedem Winkel der Stadt, in den Müllcontainern, den Krankenhäusern und Schulen: Überall hat man elektronische Chips versenkt, damit der Kampfjet auch jeden Menschen erspähen und zielsicher treffen kann. Jeden, der vorbeigeht, der sich bewegt, läuft, schläft oder sitzt. In einem Hollywood-Klischee wirst du zum Märtyrer: Gerade, wenn du deine Zigarette anzündest, fliegt plötzlich irgendetwas in die Luft. Dein Handy klingelt, du gehst ran, plötzlich fliegt etwas in die Luft. Man sagte uns: ‚Versteckt euch unter der Treppe!’. Dann sagte man: ‚Flieht in die Schulen und Luftschutzbunker!’ Der Kampfjet ließ alles an seinem Ort, nur die Treppe, die Schule und den Luftschutzbunker zerbombte er.
Die Märtyrer, Herr Lehrer, die Märtyrer sind die, die noch am Leben sind. Die Zahl der Todesopfer hat begonnen, meine Mutter zu nerven. Kennen Sie eigentlich Yusuf al-Azma, Herr Lehrer? Yusuf al-Azma, Herr Lehrer, nicht Yasser al-Azma. Yusuf al-Azma, Herr Lehrer, der war ein Märtyrer. Kennen Sie eigentlich Khawla, die Tochter des Azwar, Herr Lehrer? Dieses Mädchen war die erste Märtyrerin im Islam. Und kennen Sie Basel Shehade, Herr Lehrer? Er war der schönste Märtyrer im Islam, Herr Lehrer. … Was heißt das schon: Märtyrer? Wir wollen doch alle leben. Die Revolution des Lebens, Herr Lehrer, die Revolution des Lebens ist unser Aufsatzthema, nicht Märtyrertum und Märtyrer, Herr Lehrer. Herr Lehrer, ich will 40 blonde Mädels, ich will keine Huris. Herr Lehrer, geben Sie mir eine Flasche Al-Shark-Bier, und die Flüsse, in denen Wein fließt, können Sie behalten. Die Nachrichtensendung auch. Herr Lehrer, bringen Sie uns doch lieber die Nachricht, dass die Mathelehrerin krank ist und der Unterricht ausfällt. Herr Lehrer, das Leben ist nicht zur anderen Seite hin geöffnet …“ Der Lehrer unterbrach mich: „Genug jetzt, gib mir deinen Aufsatz.“ Er nahm mein Heft und fing an, durch die weißen, makellosen, bakterienfreien Seiten zu blättern. „Wo ist denn der Aufsatz, aus dem du gerade vorgelesen hast?“ Ich schlug ihm die Seite mit den Stiftabrücken auf und sagte: „Hier, das ist mein Aufsatz.“ „Was soll denn das sein? Das ist doch eine leere Seite.“ „Herr Lehrer, wirklich, die Tinte war eingetrocknet. Schauen Sie, nur, schauen Sie. Halten Sie’s ein wenig schräg in die Sonne, dann sieht man’s ganz deutlich.“ „Was hier, ganz deutlich … Sag mal willst du uns vergackeiern? Du hast doch deine Hausaufgaben wieder nicht gemacht! Lügen tust du also auch noch! Los, halt deine Hand auf.“ Ich zögerte, ballte meine Hände zu Fäusten und fing vor Angst an zu wimmern. „Herr Lehrer, die Tinte war aber wirklich eingetrocknet!“ Der Lehrer begann, auf meine Schultern einzuschlagen. Dabei schrie er: „Du lügst ja immer noch, du Tier! … Du Versager … Du Faulpelz!“ Weiter auf mich eindrischend sagte er: „Khawla, die Tochter des Azwar, also, he?“ Er schlug und schlug. „Und Basel Shehade war übrigens Christ, du Nichtsnutz.“ Noch mehr Schläge. „Doch, doch, Herr Lehrer, er war Muslim, aber die Tinte im Stift war eingetrocknet.“ „Und wer hat dir gesagt, dass das Leben nicht zur anderen Seite hin geöffnet ist? He?!“ „Doch, doch, es ist ja geöffnet, ganz bestimmt ist es geöffnet, Herr Lehrer … Aber die Tinte war eingetrocknet!“ „Jetzt verzieh dich auf deinen Platz, wird’s bald!“ Ich nahm mein Heft und ging an meinen Platz. Der Lehrer setzte sich auch wieder hinter sein Pult und winkte mit seinem Rohrstock wie ein Folterknecht oder ein Kerkermeister. Er sagte: „Wird’s bald! Der Nächste!“