Zum Erscheinen von Assaf Alassaf: Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter in der Übersetzung von Sandra Hetzl
„Diese Migranten kommen ja nicht aus dem Kriegsgebiet zu uns, sondern aus Lagern in den Nachbarstaaten Syriens. (…) Dort waren sie in Sicherheit.“ Viktor Orbán, September 2015
Man sollte Kommentarspalten im Netz niemals lesen. Besonders die nicht, die sich pünktlich unter jeden Artikel reihen, bei dem irgendwie von Flüchtlingen oder Syrien die Rede ist.
In der Kommentarflut werden immer wieder die gleichen Argumentationsbrocken und Schlüsselwörter hochgespült. Da wäre zum Beispiel die alberne Debatte um argwöhnisch beäugte Smartphones, angeführt als Indiz für den Reichtum ihrer Besitzer.
Oder die Leier mit den wohlgenährten, gut gekleideten, jungen, vornehmlich männlichen Flüchtlingen.
So kommentierte zum Beispiel ein Leser unter einem Artikel im Freitag („Die falsche Freundin“ vom 11. September 2015):
„Man verstehe mich bitte nicht falsch: JA zu Frauen mit Kindern, die aus Kriegsgebieten flüchten. NEIN zu den jungen, kräftigen Männern, diese sollten (…) kämpfen.“
Mancher Kommentator geht so weit, syrischen Flüchtlingen Feigheit vorzuwerfen, da sie ihre Frauen und Kinder im Kriegsgebiet zurückgelassen hätten, andere sprechen sogar von Fahnenflucht und Landesverrat.
So sinnlos es ist, sich über die Auswüchse Unbekannter im Netz aufzuregen, markieren manche von ihnen meiner Ansicht nach doch in all ihrer Ignoranz und Böswilligkeit tatsächliche Bruchstellen und Lücken in der jetzigen Debatte um Asyl.
Es mag wenig verwundern, wenn sich ähnliche Unterstellungen in den Reden rechtsextremer Politiker wiederfinden. Doch selbst in den von Links erbrachten Gegenargumenten werden die prominentesten dieser Mythen nicht entkräftet. So wurde zum Beispiel in letzter Zeit immer wieder von Zeitungen, Fernsehsendern und Onlinemedien versucht, häufig auftretende Scheinargumente und Mythen zum Thema Flüchtlinge aufzugreifen und anhand von Fakten zu widerlegen. Die drei Mythen, die mich persönlich am meisten empören, wurden dort zwar jedes Mal aufgegriffen, nie jedoch entkräftet – wobei sie sehr einfach restlos zu neutralisieren wären.
Es scheint sich um allgemein verbreitete Wissenslücken oder Logikfehler zu handeln, die sich lagerübergreifend durch die gesamte Asyl-Debatte ziehen, und zwar im öffentlichen Diskurs, in den Medien und in der Politik.
Im Folgenden gehe ich auf drei dieser wiederkehrenden Thesen ein, begebe mich in die Argumentationsketten und widerlege sie.
Stichwort #1: Smartphones
1a) Die sind reich, wir fühlen uns betrogen!
Immer wieder hört man von denjenigen, die der Aufnahme von Flüchtlingen skeptisch oder feindlich gegenüberstehen, das „Argument“ mit den Smartphones: „Aber die haben ja alle Smartphones. So schlecht geht es denen ja offenbar nicht.“ Oft werden auch schicke Kleider und Wohlgenährtheit als scharfsinnig registrierte Indizien erwähnt, die bezeugen sollen, dass diese Flüchtlinge gar nicht so schutzbedürftig sind wie sie immer dargestellt werden, womit wiederum suggeriert werden soll, dass sie keinen Anspruch auf Asyl haben sollten.
Tatsächlich ist jedoch Armut weder in der Genfer Flüchtlingskonvention, noch im Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes, die als rechtliche Grundlage für Asylverfahren gelten, als Asylgrund nicht enthalten. Dem zufolge ist die ökonomische Situation eines Flüchtlings nicht ausschlaggebend für die Anerkennung oder Ablehnung als Flüchtling. Im Gegenteil, der hier albernerweise anhand eines Smartphones bescheinigte Reichtum, würde dem Vorwurf des sogenannten „Wirtschaftsflüchtlings“ entgegenwirken: ein meist abwertend verwendetes politisches Schlagwort, ähnlich wie der sogenannte „Scheinasylant“, das als Mittel genutzt wird, um Flüchtlingen die Notwendigkeit zur Flucht abzusprechen und ihnen einen Missbrauch des Asylrechts vorzuwerfen. Die Unterstellung, dass es sich bei einem Großteil der Neuankömmlinge ohnehin nur um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handele, kommt regelmässig aus den Reihen derselben „Kritiker. Die Argumentationskette „Smartphone = Reichtum = nicht hilfsbedürftig = Wirtschaftsflüchtling‚“ ist also in sich schon ein Paradox.
Doch die gängigen Gegenargumente folgen, auch wenn sie an sich nicht falsch sind, derselben Logik:
1b) Nein, sie sind arm, deswegen helfen wir ihnen.
Meistens wird dagegengehalten, dass a) die Smartphones der Flüchtlinge nicht teuer sind, und somit ja gar kein Indiz für Reichtum sind, b) dass die Flüchtlinge außer des Smartphones schließlich nichts besitzen, also dass man sehr wohl arm und hilfsbedürftig sein und trotzdem ein Smartphone besitzen kann, und c) dass das Smartphone schließlich das einzige Mittel ist, um mit der Familie in Kontakt zu bleiben und sich während der gefährlichen Flucht zu orientieren. Auf diese Weise wollte man das Scheinargument Smartphone zum Beispiel auch in der „Zeit“ vom 13. September 2015 im Artikel „Vorurteile gegen Asylbewerber im Faktencheck“ widerlegen.
Indem man hier versucht, etwas zu relativieren, das gar nicht relativiert werden muss, lässt man sich in die verdrehte Argumentation der Rechten hineinziehen und vergisst darüber, das zu verteidigen, was es eigentlich zu verteidigen gilt: das Recht auf Asyl.
Bei der in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Definition dessen, wer oder was ein Flüchtling ist, tut es überhaupt nichts zur Sache, ob eine Person reich oder arm ist. Hier der Wortlaut der rechtlichen Grundlage des Asylgesetzes, Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieser definiert einen Flüchtling als Person, „die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.“
Jemand, der vor Verfolgung flieht, hat, selbst wenn er ein iPhone 6S besäße, ein Recht auf Asyl. Selbst wenn er Millionär wäre.
Zwei syrische Freunde von mir, die vor einigen Monaten aus dem Libanon in die Türkei geflogen sind, um von dort auf einem Schlauchboot nach Griechenland zu fahren, haben sich sogar vor ihrer Abreise in Beirut zusätzlich wasserdichte Smartphones besorgt, für den Fall, dass das Boot sinkt. (Inzwischen sind sie übrigens heil in Deutschland angekommen und ihr Asylverfahren läuft. Trotz der gar nicht so günstigen Unterwasserhandys.)
Am 8. September 2015 schrieb eine Twitter-Nutzerin treffend: „Ich verstehe nicht, wieso der Besitz eines Handys jemanden zu einem weniger glaubhaften Flüchtling machen soll. Diese Menschen fliehen aus einem Krieg, nicht aus dem 18. Jahrhundert.“
Der Rumpfgedanke des Handy-Ressentiments lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Wir wollen sie nicht, denn sie kommen aus dem Mittelalter. Oops. Sie haben Handys, sie kommen also gar nicht aus dem Mittelalter. Was wollen sie dann bei uns, wenn sie gar nicht aus dem Mittelalter kommen? Wir wollen sie nicht, weil sie nicht aus dem Mittelalter kommen.
Wie dem auch sei, die in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Kriterien treffen heute theoretisch auf jeden aus Syrien geflüchteten zu, völlig unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage, was sich sich auch in der Anerkennungsquote syrischer Flüchtlinge in Deutschland widerspiegelt. Diese liegt bei fast 100 Prozent. Und Syrien ist spätestens seit 2014 mit großem Abstand das Hauptherkunftsland von Asylsuchenden in Deutschland.
Stichwort #2: Alles Wirtschaftsflüchtlinge!
Immer wieder wurde von den Anhängern der Parteien „Alternative für Deutschland“ und „Pegida“ sowie von den so genannten besorgten Bürgern die These verbreitet, die meisten Asylbewerber in Deutschland seien doch „Wirtschaftsflüchtlinge“ (s. oben). Seit ein paar Monaten scheint endlich weitgehend zu ihnen vorgedrungen zu sein, dass der größte Teil der Asylsuchenden in Deutschland aus Syrien kommt. Und was dort herrscht, dürften selbst einige von denen mitbekommen haben.
2 a) Orbán says …
Doch selbst von der Erkenntnis, dass der Großteil der Geflüchteten tatsächlich aus der größten humanitären Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg flieht, lassen sich einige keineswegs beirren. Immer mehr kann man bei rechten Kommentatoren und Bloggern lesen, dass 100 Prozent der nach Europa kommenden Syrer als Wirtschaftsflüchtlinge zu betrachten seien, da sie ja nicht direkt aus dem Kriegsgebiet Syrien nach Europa gebeamt worden sind, sondern zuvor in Sicherheit in einem der Nachbarstaaten gelebt hätten. Solange die Syrer in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und im Irak lebten, seien sie, das sei richtig, Kriegsflüchtlinge und hätten somit einen Anspruch auf Asyl. Sobald sie sich jedoch von dort nach Europa aufmachten, könne dies nur ökonomische Gründe haben. Das sagt sogar der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán – der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer scheint auch nicht mehr weit davon entfernt – und spricht so den Menschen ihren Anspruch auf Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ab.
Na gut, mögen Sie jetzt vielleicht sagen: Wer hört schon auf Orbán oder Seehofer oder auf irgendwelche Spinner von Britain First?
Das Problem ist jedoch meiner Meinung nach auch in diesem Punkt: Was könnten Sie, außer, dass Menschen grundsätzlich willkommen zu heißen sind, logisch darauf entgegnen?
Vor allem, wo doch auf der anderen Seite ständig auf die Millionen von Flüchtlingen hingewiesen wird, die der Libanon, Jordanien und die Türkei aufgenommen haben – meistens polemisch, um zu untermauern, dass Europa sich nicht so haben solle, da es nur einen Bruchteil der Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Was natürlich richtig ist, wie auch die Zahlen bestätigen:
Mittlerweile ist jeder zweite Syrer auf der Flucht. Zwei Drittel davon, circa 6,5 Millionen, sind im eigenen Land vertrieben, 4,1 Mio. andere sind in Syriens Nachbarländer geflohen, 1,9 Millionen sollen es in der Türkei sein, 2,1 Millionen leben verteilt über den Libanon, Irak, Ägypten und Jordanien. Der Libanon hat für seine kleine Fläche und seine Einwohnerzahl von 4,4 Millionen Einwohnern eine besonders große Menge an syrischen Flüchtlingen aufgenommen, sie machen inzwischen fast ein Drittel der Bevölkerung aus; auf etwa jeden vierten Libanesen kommt ein syrischer Flüchtling. Zwischen April 2011 und Juni 2015 haben dagegen nur 311.349 Syrer Asyl in den 28 europäischen Ländern beantragt. Aktuelle Zahlen veröffentlicht der Hohe Flüchtlingsrat der Vereinten Nationen, der UNHCR hier: http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php
Die Nachbarstaaten Syriens haben also in der Tat viel mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als ganz Europa zusammen.
2 b) Fiese Fragen
Doch was bedeutet hier eigentlich „aufgenommen“? Und was genau sagen uns die erschreckenden Bilder aus den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens? Leben die Menschen dort im Elend, weil „die Nachbarländer überfordert sind“? Weil sie an der Integration der Flüchtlinge scheitern? Ist das eine Erklärung? Oder weil sie keine Arbeitsmöglichkeiten haben, da die Nachbarländer arm sind?
Nun, Syriens Nachbarländer, zumindest die Türkei, Jordanien und den Libanon, kann man nicht wirklich als arm bezeichnen. Sie sind zumindest reicher als die in Europa liegenden Balkanstaaten. Wollen die Flüchtlinge also vielleicht gar nicht arbeiten, haben sie nicht den nötigen Schmiss, sich in den, zugegeben, womöglich etwas raueren Bedingungen, durchzuschlagen? Ist es also am Ende doch der Reichtum Mittel- und Nordeuropas, der die Menschen weiterziehen lässt? Die Sozialsysteme? Die Antwort ist ganz klar: Nein. Es ist das europäische Asylsystem. Dieses bietet nämlich den meisten in den Libanon und nach Jordanien geflüchteten Syrern die einzige Möglichkeit, in den Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis zu kommen, und den Schutz, den diese impliziert. Sprich: ein Dokument, das es einem ermöglicht, sich legal in einem Land aufzuhalten, das nicht das eigene ist, da man dort verfolgt wird. Das ist einer der Hauptgründe für die Weiterflucht nach Europa.
2 c) Im Osten keine Haftbarkeit
Da ich selbst im Libanon lebe und da ein Großteil der über Umwege nach Deutschland weiterfliehenden Syrer vorher im Libanon war, gehe ich im Folgenden vor allem auf die dortige Lage ein.
Der Libanon ist eines der Länder, das die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 weder unterzeichnet noch ratifiziert hat, und ist also in diesem Sinne nicht für deren Implementierung haftbar. Das hat zur Folge, dass es im Libanon weder ein Asylverfahren gibt, noch irgendeine sonst wie geartete Prozedur, nach deren Abschluss man als Flüchtling anerkannt werden könnte. Dasselbe gilt für den Irak und für Jordanien, für die Türkei nur bedingt.
Zu den von der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Rechten gehört unter anderem die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge (Art. 28).
So etwas gibt es weder im Libanon noch in Jordanien, auch nicht im irakischen Kurdistan oder in Ägypten. Dass dennoch Millionen aus Syrien geflüchtete Menschen in diesen Ländern leben, liegt natürlich an ihrer geographischen Lage und an der Tatsache, dass diese, gemäß dem im Völkerrecht verankerten Non-refoulment Gebot (Grundsatz der Nicht-Zurückweisung), Flüchtlinge nicht einfach nach Syrien abschieben dürfen. Da dieses Gebot nicht wirklich bindend ist, wird es vereinzelt immer wieder – folgenlos – gebrochen, besonders durch Jordanien und Ägypten.
2 d) Der Tourismus boomt
Wie kommen die Flüchtlinge über die syrisch-libanesische Grenze, und was ist dann ihr Status? Bis zum Winter 2014 konnten syrische Kriegsflüchtlinge im Besitz von gültigen Ausweispapieren uneingeschränkt beim Grenzübertritt ein sechsmonatiges Touristenvisum bekommen. Das war seit jeher so, ist also keine spezielle humanitäre Antwort auf die Kriegssituation. Das bedeutet, dass die Syrer, die vor Winter 2014 in den Libanon geflüchtet sind, offiziell Touristen waren. Als Tourist konnte man alle sechs Monate sein Visum verlängern bei der sogenannten General Security, einer multifunktionalen libanesischen Behörde, die neben dem Ausstellen von Pässen und Ausweisen unter anderem auch Funktionen eines Nachrichtendienstes hat, wie Informationsbeschaffung und -auswertung. Man konnte sich auch eine Arbeit suchen. Allerdings erlaubt das libanesische Gesetz ausländischen Arbeitnehmern, und so auch SyrerInnen, berufliche Tätigkeiten nur in den folgenden drei Bereichen: in der Landwirtschaft, in Reinigungsberufen (Müllabfuhr zum Beispiel) und auf dem Bau. Wer anderen Berufen nachgeht, vom Barkeeper zum Zahnarzt, arbeitet illegal und macht sich gegebenenfalls strafbar. Die Verfolgung von Schwarzarbeit, etwa in Form von Arbeitsrazzien, geschieht im Libanon nur sporadisch. Wer allerdings in eine solche Kontrolle gerät, dem droht Festnahme und oft auch körperliche Gewalt. So erging es vor einigen Monaten einem syrischen Zahnarztkollegen von Assaf Alassaf: Nachdem ihn die Polizei aus der Praxis gezerrt hatte, war er, der auch Familienvater ist, mehrere Wochen inhaftiert und wurde immer wieder geschlagen. Doch viel strenger geht es in Jordanien zu. Dort gilt für Syrer allgemeines Arbeitsverbot und wird aufs Härteste verfolgt. Wer beim Arbeiten erwischt wird, dem droht Gefängnisstrafe, und manchmal schreckt man auch vor einer Abschiebung nicht zurück. Zudem gilt in Jordanien für die in den Lagern lebenden syrischen Flüchtlinge eine Lagerpflicht, die den Menschen verbietet, sich außerhalb des Lagers aufzuhalten. Auch hier droht Haft bei Zuwiderhandlung. Innerhalb des Lagers wird Arbeit nicht strafrechtlich verfolgt. Wie großzügig.
2 e) Ein abgelaufener Pass und eine Auslandsvertretung, die einen nicht vertritt
Zurück zu den Flüchtlingen im Libanon. Die meisten SyrerInnen haben infolge einer mehr oder weniger plötzlich eingetretenen Notsituation das Land verlassen. Ihre Flucht in den Libanon geschah oft ungeplant und überstürzt. Im besten Fall hatten sie einen gültigen syrischen Reisepass dabei, den sie vielleicht irgendwann einmal in Friedenszeiten beantragt hatten, etwa weil ein Auslandsstudium oder eine Reise anstand. Der syrische Pass hat wie jeder Pass ein Ablaufdatum, allerdings ist seine Lebensdauer viel kürzer als die des deutschen Passes. Maximum sechs Jahre, für Männer im Militärdienstalter nur zwei Jahre. Dafür ist er umso teurer: Für einen neuen Reisepass verlangen syrische Behörden 400 Dollar, für eine Verlängerung für maximal zwei Jahre 200 Dollar. Was tut man also, wenn dieser abläuft, während man im libanesischen Ausland ist und nicht zurück kann? Richtig, man geht zur syrischen Botschaft in Beirut. Doch hier taucht, besonders für politisch verfolgte SyrerInnen und DissidentInnen eines der vielen Probleme auf, die der Abwesenheit eines Asylverfahrens und der darin enthaltenen Möglichkeit, einen Flüchtlingsreisepass zu bekommen, geschuldet sind. Wer in Syrien politisch verfolgt wird, wird bei der syrischen Botschaft natürlich überprüft. Wird man als politisch Verfolger erkannt, wird einem die Passverlängerung schlichtweg verweigert. Oft wird dem oder derjenigen dort zynisch gesagt, er oder sie solle doch einfach nach Syrien gehen und sich dort behördlich melden – natürlich wohl wissend, dass man dort inhaftiert würde.
Je näher das Ablaufdatum des Passes rückt, desto mehr droht man also, in die Illegalität abzurutschen, ohne Wiederkehr: Denn ist der Pass erst einmal abgelaufen, kann man nicht einmal mehr in eines der Länder fliegen, in denen man durch ein Asylverfahren in den Besitz eines Passes kommen könnte (ich meine natürlich: Europa). Nun kann der- oder diejenige über Bestechungsgelder versuchen, sich eine gefälschte Verlängerung in seinen Pass kleben zu lassen. Doch selbst die hat sich inzwischen als untauglich herausgestellt. Mehrere Bekannte von mir, die sich in der Verzweiflung eine solche für teueres Geld haben machen lassen, sind spätestens als sie mit ihrem Pass am Beiruter Flughafen ausreisen wollten, festgenommen worden. Nach einigen Tagen wurden sie zwar entlassen, doch dann wurde ihnen der Pass gänzlich entzogen. So saßen sie ohne einen Pass, in den man eine Aufenthaltsgenehmigung kleben könnte, im Libanon fest. Auch desertierte Soldaten kommen meist ohne jegliche Papiere und somit auf illegalem Weg ins Land. Doch auch viele Syrer im Libanon ohne politische Sondersituation befinden sich in einer solchen Situation. Wenn man aus einem Krieg flieht, kann es durchaus vorkommen, dass man keine Dokumente mitnehmen kann, beispielsweise weil sie unter den Trümmern des Hauses vergraben sind.
2 f) Der Wisch des Hohen Flüchtlingsrats der Vereinten Nationen
Für die Kategorien von Menschen, die mangels jeglicher Dokumente durch das „libanesische Tourismussystem“ hindurchfallen, gibt es nur noch eines: sich als Flüchtling beim Hohen Flüchtlingsrat der Vereinten Nationen, dem UNHCR, zu registrieren. (Diese Registrierung ist im Übrigen auch die Voraussetzung, um eventuell in eines der humanitären Aufnahmeprogramme nach Europa oder Kanada zu kommen.) Dort bekommt man ein Papier das einen zwar als international anerkannten Flüchtling ausweist, einem jedoch keine Legalität im Land gibt, wie es etwa der deutsche Flüchtlingsausweis tut. Das heißt, es ersetzt weder einen Ausweis noch eine Aufenthaltsgenehmigung, und schützt in sofern nicht vor Festnahme bei Polizeikontrollen. In der Türkei, in der sonst einiges etwas besser als im Libanon und in Jordanien funktioniert, ist dieses UNHCR-Papier übrigens völlig wertlos. Darauf, wie es sich als Illegaler im Libanon lebt, komme ich später zurück.
Bis jetzt habe ich die verschiedenen Aufenthalts-Optionen bis Anfang Januar 2015 aufgezählt.
2 g) Bitte nur noch wohlhabende Touristen aus Syrien
Ab Januar 2015 trat im Libanon eine im Oktober 2014 konzipierte Gesetzesänderung in Kraft, die die Eindämmung des Zustroms der Flüchtlinge zum Zweck hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte der beiden Länder wurden Visabestimmungen für Syrer eingeführt. Diese sind sehr streng und gelten auch rückwirkend für alle vor Januar 2015 eingereisten SyrerInnen, und zwar ab dem Zeitpunkt, wo ihre letzte sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist (ein Zustand, der, mathematisch gesehen, spätestens ab Ende Juni 2015 alle eingeholt hatte.)
Seitdem gibt es neun verschiedene Arten von Einreisevisa für SyrerInnen, die jeweils an einen bestimmten Reisezweck gebunden sind, den man nachweisen können muss. Die daraus resultierende Aufenthaltsgenehmigung gilt, je nach Art des Visums, für einen Zeitraum von 24 Stunden bis zu maximal sechs Monaten.
Anerkannte Gründe für eine Einreise (aus Syrien, verdammt nochmal!!!) in den Libanon können zum Beispiel ein Flug ins Ausland vom Beiruter Flughafen sein, in diesem Fall muss man logischerweise ein Flugticket vorweisen; ein Termin bei einer Botschaft, den man auch mit einem Schreiben der Botschaft belegen muss; ein vorgesehener Krankenhausaufenthalt ist auch eine Möglichkeit, natürlich nach dem Vorzeigen eines nach Syrien gefaxten Krankenhaustermins; auch ein Studium, wenn man eine Zulassung für eine libanesische Uni vorweisen kann. Zusätzlich muss in allen Fällen nachgewiesen werden, dass man über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um seinen Aufenthalt zu finanzieren. Oft muss auch eine Unterkunft nachgewiesen werden. Man kann auch eine Hotelbuchung, die man von Syrien aus gemacht haben muss, einreichen.
Wenn während der ersten Jahren des Krieges syrische „Touristen“ freizügig in den Libanon einreisen konnten, können dies jetzt nur noch „besonders wohlhabende wirkende“ Touristen.
Der Flüchtling muss sich also die Maske eines wohlhabenden Touristen aufsetzen, um überhaupt ins Land zu kommen.
2 h) Arbeitsverbot für alle
Wer die Auflagen für ein Visum erfüllt und es ins Land geschafft hatte, konnte sich wiederum nach Ablauf seines spezifischen Visums beim UNHCR als Flüchtling registrieren lassen. Seit den verschärften Visabestimmungen kann man dann auf dieser Basis, allerdings gegen eine Gebühr von 200 Dollar, bei der berüchtigten General Security eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, die man alle sechs Monate erneuern muss. Doch im Januar 2015 gab es weitere schwerwiegende Gesetzesänderungen, diesmal jedoch vom UNHCR. Seit Januar akzeptiert der UNHCR keine neuen Registrierungen mehr. Man kann sich nicht mehr als Flüchtling registrieren lassen. Und seit Mai 2015 müssen diejenigen, die es vor Januar ins Land und in die Flüchtlingsregistrierung des UNHCR geschafft haben, dort einen Eid leisten, dass sie gar nicht im Libanon arbeiten werden. Nicht einmal in den drei für Syrer erlaubten Berufen.
Angenommen alles läuft also „glatt“ und man hat die sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung als registrierter UNHCR-Flüchtling im Libanon in der Tasche, darf man im Gegenzug überhaupt nicht arbeiten. Das gilt auch rückwirkend für die insgesamt 1,2 Millionen Menschen, die sich im Laufe der letzten 4 Jahre als Flüchtlinge eingetragen haben.
2 i) Wie kriegen wir bloß die Miete für unser Zelt zusammen?
Heißt das nun, dass man als UNHCR-Flüchtling finanzielle Unterstützung bekommt, etwa vom libanesischen Staat oder vom Hohen Flüchtlingsrat? Leider nicht.
Für „besonders gefährdete Familien“, wobei die Kriterien hierfür nirgends erklärt werden, gibt es allerdings sage und schreibe 13 US-Dollar pro Person monatlich als Lebensmittelversorgung. Alleinstehende Personen sind davon ausgeschlossen. Hier muss erwähnt werden, dass die Lebenshaltungskosten im Libanon keineswegs niedrig sind. Die ärmsten unter den syrischen Flüchtlingen, also diejenigen, die entlang der syrisch-libanesischen Grenze in Zelten leben, müssen für ihre Zelte Miete zahlen.
Im Januar 2013 war ich einmal in einem solchen Lager in den Bergen, hinter Tripolis. Dort lebten damals etwa 900 Familien, alle aus Deir Baalba, einem Stadtteil von Homs. Alle waren im Zuge desselben Massakers geflüchtet. Sie hatten damals 150 Dollar pro Zelt an den Landbesitzer zu zahlen. Nicht ganz billig, selbst wenn man sich unter den Glücklichen wiederfindet, die 13 Dollar pro Kopf bekommen. Von den Lebenshaltungskosten in Beirut einmal ganz zu schweigen, diese entsprechen teilweise denen von München.
2 j) Zarte Hände
Doch zurück zur Aufenthaltsgenehmigung auf Basis der UNHCR-Registrierung.
Als ob all das nicht schon genug wäre, kann selbst hier immer noch etwas schiefgehen. So berichten Tausende Syrer, die seit der Gesetzesänderung im Mai beim UNHCR ihren Nicht-Arbeits-Eid unterschrieben haben und mit diesem dann inklusive der 200 Dollar zur General Security gegangen sind, um ihre Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, dass die (zugegeben oft leicht sadistisch veranlagten) Offiziere dort mit ihnen einen Handflächen-Test durchgeführt haben. Also: Handflächen aufhalten, und dann streicht der Offizier mit seinen zarten Fingern darüber und attestiert: „Da ist Hornhaut! Du hast Arbeiterhände. Dein Eid ist folglich eine Lüge.“ Und so wird nichts aus der Aufenthaltsgenehmigung, und das UNHCR-Blatt ist nur noch ein Stück Papier.
2 k) Verpflichtungserklärung auf Libanesisch
Damit ich hier auch wirklich nichts unterschlage, muss ich hinzufügen, dass es durchaus noch eine weitere Möglichkeit gibt, eine Aufenthaltsgenehmigung im Libanon zu bekommen: Die Verpflichtungserklärung. Diese kann entweder von einem libanesichen Verwanden, Vermieter oder Arbeitgeber bei der General Security eingereicht werden. Auf der Basis einer solchen Verpflichtungserklärung bekommt man eine Aufenthaltsgenehmigung von einem Jahr. Natürlich greift bei der Verpflichtungserklärung durch einen Arbeitgeber wieder das Gesetz, demzufolge Syrer nur in drei Berufen im Libanon arbeiten dürfen: in Reinigungsberufen, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Und, obwohl der Verpflichtungsgeber anders als bei der deutschen Verpflichtungserklärung keinerlei Nachweise erbringen muß und keinerlei Verantwortung zu tragen hat, ist mit diesem Anfang 2015 in Kraft getretenen Gesetz ein großer Schwarzmarkt entstanden: Libanesen verlangen im Schnitt zwischen 200 und 1000 Dollar von dem Syrer, den sie auf diese Weise legalisieren. Hier noch eine in vielerlei Hinsicht aufschlußreiche Anekdote. Während ich das hier schreibe, hat meine Freundin, die gerade bei mir zu Besuch ist, einen Anruf ihres Bruders erhalten. Sein syrischer Mitbewohner, der zur Zeit auf sein mexikanisches Studienvisum wartet, da er ein Stipendium der mexikanischen Regierung bekommen hat, wollte in der Zwischenzeit seinen Aufenthalt im Libanon regeln. Er hatte einen Libanesen bezahlt, der ihm eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hat. Gemeinsam haben sie alle für eine Aufenthaltsgenehmigung notwendigen Dokumente bei der General Security eingereicht. Vorgestern erhielt er einen Anruf aus dem Hauptsitz der General Security: Seine Aufenthaltsgenehmigung sei jetzt fertig, er solle am nächsten Morgen vorbeikommen und sie abholen. Das tat er gestern früh auch – und ist seither nicht wieder aufgetaucht. Alles, was seine Freunde und Mitbewohner bis jetzt herausfinden konnten, ist, dass er im Hauptsitz der General Security festgenommen wurde, und seither inhaftiert ist.
2 l) Wie es sich im Libanon so lebt, wenn man illegal ist
Wie ist es also, illegal als Syrer im Libanon zu leben? Als Illegaler hat man kaum Chancen, dass einem jemand eine Wohnung vermietet. Man darf keine Verträge unterschreiben und kann auch seine Kinder eigentlich nicht einschulen – zumindest nicht nach dem libanesischem Recht, seit der libanesische Bildungsminister Elias Abu Saab 2014 beschlossen hat, dass lediglich Eltern, die im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung sind, ihre Kinder staatlich einschulen dürfen. Laut dem UNHCR haben allerdings auch Kinder ohne Aufenthaltsgenehmigung das Recht, im Libanon zur Schule gehen – solange sie unter 15 Jahre alt sind. So wird die Sache mit der Einschulung zwischen dem UNHCR und den libanesischen Behörden hin-und-hergeschoben. Viele Schulen des ohnehin maroden öffentlichen Schulsystems im Libanon weigern sich, syrische Kinder aufzunehmen. Doch aufgrund des Beschlusses des Bildungsministers können selbst jene Schulen, die syrische Kinder aufnehmen, diesen keine offiziellen Zeugnisse ausstellen. Deswegen gehen einige Kinder eigens für die Zeugnisprüfungen nach Syrien. Derselbe Elias Abu Saab war es übrigens auch, der am 14. September 2015 den britischen Premierminister David Cameron, der im Libanon zu Besuch war, indirekt von der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen abriet, indem er ihn warnte, dass zwei von hundert syrischen Flüchtlingen im Libanon dem IS angehören. Laut Schätzungen des libanesischen Bildungsministeriums sind rund 200.000 syrische Kinder im Schulalter unter 15, 70.000 davon seien im Grundschulalter. Den Rechnungen Abu Saabs zufolge müssten also ca. 4000 syrische Kinder im Schulalter dem IS angehören. Insofern macht es natürlich Sinn, sie von Bildung auszuschließen. Zumal man, solange sie im Land bleiben, an ihnen Geld verdienen kann, das die vor den IS-Kindern verängstigte EU bereitwillig der libanesischen Regierung zur Verfügung stellt. Spaß beiseite.
2 m) Läge der Libanon doch nur in der Karibik
Abgesehen von diesem kafkaesken Wahnsinn, diesem Labyrinth der Unmöglichkeiten, das ich hier seitenweise versucht habe, zu beschreiben, gibt es noch ein weiteres Problem des Lebens im Libanon als syrischer Flüchtling, besonders als illegaler: die Unsicherheit. Auch wenn Herr Orbán das anders sieht. Und ich meine nicht die gar nicht so unberechtigte Sorge, es könnte jederzeit auch im Libanon ein Krieg ausbrechen oder der bewaffnete Konflikt in Syrien in den Libanon herüberschwappen. (Der IS behauptet indessen, bereits an den Grenzen des Landes zu sein.)Nein, ich spreche von dem Risiko, das man auf sich nimmt, in einem mit Militär-Checkpoints übersäten Land ohne gültige Papiere herumzulaufen. Selbst dieser Spießrutenlauf ginge vielleicht noch, wenn dieses Land, sagen wir, in Lateinamerika läge: irgendein weit entferntes, dem Krieg, aus dem man geflohen ist, desinteressiert und neutral gegenüberstehendes Stück Erde.
Doch leider ist der Libanon nicht nur nicht neutral, sondern sogar aktiv am bewaffneten Konflikt in Syrien beteiligt. Die Milizen der Hisbollah, der libanesischen Amal-Bewegung, der libanesischen Hizbutahrir, der Syrischen Sozial-Nationalistischen Partei sind nur einige der im Libanon ansässigen Gruppen, die sich im Syrienkrieg militärisch aktiv beteiligen. Zigtausende Libanesen also kämpfen auf verschiedenen Fronten in Syrien. Je nachdem, woher man als syrischer Flüchtling kommt und wo man dann im Libanon wohnt, kann man recht schnell an die Falschen geraten. Auch an den Militär-Checkpoints. Und das Ganze ohne gültige Papiere! Die Türkei, Jordanien und der Irak sind im Übrigen nicht weniger involviert.
2 n) Ausgangssperre
Für syrische Flüchtlinge im Libanon sind Ausgangssperren und Zwangsräumungen inzwischen an der Tagesordnung. Der Grundstein für diese Entwicklung wurde allerdings schon im Jahr 2013 gelegt, unter dem ehemaligen libanesischen Innenminister, dem Minister of Interior and Municipalities Marwan Charbel. Dieser erteilte im Zuge einer von ihm einberufenen Großversammlung, bei der über 800 Gemeinderäte zugegen waren, den Kommunen und Gemeinden ein Art Freibrief. Mit weitreichenden Folgen. Die Gemeinden erhielten die Befugnis und gleichzeitig die Empfehlung, die jeweiligen Kommunalpolizeieinheiten zu trainieren und zu bewaffnen. Zudem dürfen seitdem Gemeinden auch zusätzliche Personen als Wachpersonal einstellen, trainieren und bewaffnen, im Einvernehmen mit der General Security. Seither verhängen landesübergreifend immer mehr Gemeinden eine Ausgangssperre für Syrer. Manchmal werden diese Ausgangssperren in Form von über Straßen gehängten Bannern kommuniziert, manchmal werden auch ganze Stadtviertel mit Warnzetteln plakatiert, auf denen steht, dass Syrer, die sich zwischen 20 und 6 Uhr außerhalb ihrer Wohnungen befinden, festgenommen werden.
Hier ein hübsches, unübersehbares Exemplar aus meiner Nachbarschaft:
Die Umsetzung gewährleistet die neuerdings bewaffnete Kommunalpolizei, sowie die durch Befugnis des Innenministeriums bewaffneten weiteren Personen, sprich: Bürgerwehren. Faktisch jedoch ist es so, dass sich seither jeder auf diese Gemeindebeschlüsse berufen kann und Syrer in reiner Eigenjustiz nach Belieben vertreiben oder angreifen darf.
Wer also die Plakate übersehen hat oder erst nachts von der Arbeit nach Hause kehrt, beispielsweise weil er in einer Bar kellnert, schwarz, versteht sich, oder sie einfach ignoriert und einen Spaziergang um den Block wagt, dem drohen potenziell Verhaftung, Schläge und, wenn es dumm läuft, sogar Messerstiche durch die lokalen Bürgerwehren oder sonstige besorgte Bürger. Dieser Art von Aggressionen sind übrigens vor allem junge, männliche Syrer ausgesetzt.
So kam es beispielsweise im Sommer 2014 in Beirut an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen und in verschiedenen Stadtteilen gleichzeitig zu offensichtlich koordinierten Angriffen mit Messern und Schlagstöcken durch libanesische Jugendgangs auf nach der Arbeit heimkehrende Syrer. Immer berufen die Angreifer sich dabei auf Beschlüsse der jeweiligen Gemeinden.
Noch einen Tick rauer geht es allerdings in den Gemeinden in der syrisch-libanesischen Grenzregion zu, wo besonders viele der ökonomisch schwächsten syrischen Flüchtlinge leben. So sieht man zum Beispiel im nordlibanesischen Akkar, seit im August 2014 eine Ausgangssperre für Syrer einheitlich in allen zum Gouvernement Akkar gehörigen Städten und Dörfern verhängt wurde, nach 20 Uhr junge Männer aus der Nachbarschaft mit Maschinengewehren patroullieren, um diese auch zu gewährleisten. Natürlich mit Befugnis des Innenministeriums.
2 n) Zwangsräumungen und ein bisschen Vogelfreiheit
Am 23. Juni 2015 rief mich morgens aufgebracht ein (im übrigen transsexueller) syrischer Freund an, der mit vielen anderen Syrern in einem billigen Motel im angesagten Beiruter Stadtteil Gemmayze lebte. Unbekannte hatten eine Warnung in Form eines handkopierten Flyers an sämtliche Motels und günstigen Mietshäuser verteilt. Darin bezogen sie sich auf ein jüngst durch den IS veröffentlichtes Drohvideo. Auf dem Zettel, der mir vorliegt, steht:
„Schreiben von der Jugend von Gemmayze. Nachdem die Terrororganisation des IS als Reaktion auf das aus dem Roumieh-Gefängnis geleakte Foltervideo droht, die gekidnappten libanesischen Soldaten zu töten, möchten wir Folgendes klarstellen und zwar nur ein einziges Mal: Diese Barbarei wird nicht folgenlos bleiben. Ihr Preis wird horrend sein, und zahlen werden ihn die syrischen Flüchtlinge mit ihrem Blut, ganz egal, auf welcher Seite sie stehen.
Sollte der IS seine Drohung wahrmachen, werden unsere Milizen nicht zögern, jeden einzelnen Syrer den wir erwischen, zu exekutieren. Diese Warnung ist als direkte Todesdrohung zu verstehen. Wir haben euch gewarnt. Gemmayze, 23.6.2015 “
Doch war mein Freund weniger über jenen Warnzettel aufgebracht, sondern vielmehr darüber, dass der Besitzer des Motels daraufhin tatsächlich alle syrischen MieterInnen, einschließlich ihn, vor die Tür setzte, unterstützt von Angestellten des Gesundheitsamts und der Kommunalpolizei.
Sechs weitere Motelbesitzer im Stadtteil taten es ihm gleich.
Als mein Freund schließlich halsüberkopf zu Freunden in den Stadtteil Sedd el-Boucherieh flüchtete, erlebten sie um Mitternacht desselben Tages eine weitere Überraschung. Junge libanesische Männer öffneten gewaltsam die Wohnungstür und warfen den verängstigten Bewohnern den gleichen Zettel, nur diesmal unterschrieben mit „Jugend von Sedd el-Boucherieh“ vor die Füße. Am nächsten Morgen versuchten sie verzweifelt, eine Wohnung in einem anderen Stadtteil zu finden: kein einfaches Unterfangen, wenn man ein illegaler syrischer Flüchtling ist und noch dazu transsexuell.
2 p) Taxi-Anekdote mit Waffe
Aber die nicht-gegebene Neutralität kann einen auch aus ganz anderer Ecke überraschen, auch als Frau: Eine Freundin von mir in Beirut ist vor einigen Monaten mit einem Taxi, das sie auf der Straße angehalten hatte, von A nach B gefahren. Das ist hier so üblich, Taxis sind das gängige Fortbewegungsmittel. Nachdem sie eingestiegen war und dem Taxifahrer ihr Ziel gesagt hatte, fuhr er los. Kurz darauf fragte er sie: „Syrerin?“ Er hatte natürlich bei den paar gewechselten Worten ihren syrischen Akzent identifiziert. Sie bejahte. Dann fragte er: „Und? Magst du Bashar Al Assad?“ Darauf sie: „Nö.“ Plötzlich hielt er ihr eine Pistole an die Schläfe. Dazu sagte er nur: „Wenn wir jetzt in Syrien wären, hätte ich sie in deinen Schädel entladen.“ Dann fuhr er in irgendeinen Tunnel und warf sie mitten auf der Fahrbahn aus dem Taxi.
Übrigens, wissen Sie, was meiner Freundin inzwischen passiert ist? Sie hatte auch das Problem mit dem abgelaufenen Pass, das ich oben bereits erwähnt hatte. Und sie hat sich dann auch für teures Geld eine gefälschte Verlängerung reinmachen lassen. Und dann sollte sie im Rahmen ihrer Arbeit in die Türkei fliegen – sie arbeitet als Expertin für eine namhafte internationale Hilfsorganisation. Und wieder die alte Leier, am Flughafen wurde sie für 48 Stunden festgenommen, und dabei verbal sehr gedemütigt. Wie dem auch sei, jedenfalls hat sie jetzt auch keinen Pass mehr. Keinerlei Dokumente, die sie ausweisen könnten. Checkpointspießrutenlauf.
2 q) Auf der Abschussliste
Ach ja, eines wollte ich noch sagen. In der Regel wird ein Syrer, der ohne Papiere an einem Checkpoint kontrolliert wird, lediglich für 24 Stunden eingesperrt, ein bisschen geschlagen und dann wieder auf freien Fuß gesetzt. Gezielt von der Staatssicherheit verfolgt wird jedoch eine Gruppe von SyrerInnen: humanitäre Hilfsarbeiter. Dabei hat jede einzelne der großen, namhaften, westlichen internationalen Hilfsorganisationen, die vom Libanon aus in Syrien oder in den Flüchtlingslagern tätig sind, syrische Mitarbeiter, die ihnen erst den Einblick und die Reichweite in die Lager und nach Syrien gewährleisten können. Diese werden jedoch oft aus ihren Wohnungen verhaftet. Anklage: Terrorismusfinanzierung.
2 q) Orbáns Zugeständnis
So, all das, um restlos Orbáns These zu widerlegen, dass jemand, der sich aus dem Libanon irgendwann nach Europa aufmacht, dies zwingend aus ökonomischen Gründen tut. Im Übrigen würde man im Libanon Orbán widersprechen: Da werden die Syrer von Anfang an als „Wirtschaftsflüchtlinge“ betrachtet und auch behördlich so behandelt. Orbán gesteht ihnen immerhin zu, in Syriens Nachbarstaaten „echte Kriegsflüchtlinge“ zu sein.
Wer noch detailliertere Informationen zur Lage von syrischen Flüchtlingen in den Nachbarstaaten will, kann sich diese zwei umfangreichen Berichte von Amnesty International durchlesen:
https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/1785/2015/en/
https://www.amnesty.org/en/documents/pol40/1796/2015/en/
Puh. Jetzt müsste es allen klar sein, warum man als Flüchtling eventuell den Libanon schnell verlassen möchte. Und warum die Aussage „Libanon hat aufgenommen“ zumindest genauer erklärt werden müsste.
Jetzt möchte ich noch mit einem dritten und letzten Allgemeinplatz über Flüchtlinge aus Syrien aufräumen. Das Folgende lässt sich auch auf Flüchtlinge aus vielen anderen Ländern übertragen:
Stichwort # 3: Die meisten, die zu uns kommen, sind alleinstehende junge Männer
Das stimmt in der Tat, das bestätigen auch die aktuellen Zahlen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). So stammen nur ein Drittel der zwischen Januar und Juli 2015 von syrischen Staatsbürgern eingereichten Asylanträge von Frauen.
Von rechter Seite wird natürlich, wie bei den Smartphones, die Überzahl an Männern unter den Asylsuchenden wieder vage als Indiz für deren mangelnde Hilfsbedürftigkeit angeführt. Vielleicht weil gemäß ihrer Denkweise junge Männer an sich stärker und weniger schutzbedürftig sind als Frauen. Außerdem unterstelle ich vielen konservativen deutschen Männern Angst vor dem muslimischen Mann. Im Gegensatz dazu hegen sie, so ist manchmal mein Eindruck, Rettungsfantasien gegenüber der orientalischen unterdrückten Frau. Von deutschen Frauen und Männern gleichermaßen liest man vermehrt, dass von der orientalische Heißblütigkeit Gefahren für deutsche Frauen ausgingen … und so weiter.
Außerdem wird, wie bereits oben erwähnt, in dieser Argumentationswolke diesen fliehenden Männern Feigheit vorgeworfen, denn angeblich haben sie ihre Frauen, Mütter, Schwestern und Kinder mutterseelenalleine und verantwortungslos im Kriegsgebiet zurückgelassen, anstelle sie zu verteidigen.
Als Gegenargument gegen diesen Dünnschiss, der furchtbare Unterstellungen beinhaltet, kommt dann meistens a) ein Beweisfoto, auf dem man doch ein paar Frauen und Kinder sieht, und b) wird entgegnet, dass Männer genauso schutzbedürftig sind. Was beides natürlich stimmt. Doch erklärt man so die Überzahl an Männern nicht, die hier so argwöhnisch beäugt wird, sondern versucht sie zu leugnen oder zu ignorieren.
Selbst in Zeitungsartikeln zum Thema gibt man sich unsicher. So schreibt die „Welt“ in einem ansonsten sehr informativen Artikel am 10. September 2015: „Dass junge Männer deutlich in der Überzahl sind, liegt wohl vor allem daran, dass sie anstelle der Frauen die anstrengende Reise wagen, um ihre Familien später nachzuholen.“ Unsicher bleibt auch hier das relativierende „wohl“ stehen. Als gäbe es da etwas zu mutmaßen. Dabei liegt dem Ganzen eine einfach nachzuvollziehende, glasklare, skandalöse Kausalitätskette zugrunde.
Übrigens, was die „Weiterfluchtgründe“ betrifft, eiert oben erwähnter Welt-Artikel gutmeinend ebenso: „Dass noch mehr Flüchtlinge aus dem Libanon nach Deutschland kommen wollten, mag daran liegen, dass das kleine, konfessionell gespaltene Land besonders überfordert ist.“ Auch hier wird so getan, als könne man sich nur auf Mutmaßungen berufen.
Auf der Seite des UNHCR kann man sehen, dass die 2,1 Millionen registrierten syrischen Flüchtlinge, die auf den Libanon, den Irak, Ägypten und Jordanien verteilt leben, plus die 1,9 Millionen in der Türkei sich folgendermaßen aufteilen: 49,9 Prozent sind Männer, 50,5 Prozent Frauen (http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php, Stand vom 17. September 2015).
Also sogar 0,6 Prozent mehr Frauen. Wie der Welt-Artikel schon angedeutet hat, ist an der Diskrepanz in der Geschlechteraufteilung der Flüchtlinge zwischen Beirut und Berlin die beschwerliche Reise schuld. Was der Autor des Artikels jedoch ein wenig unterschlägt ist, dass den SyrerInnen keine anderen Reisemöglichkeiten zur Verfügung stehen:
Sehr wenige Familien hatten das Glück, im Rahmen eines der Aufnahmeprogramme legal und sicher in ein europäisches Land wo ihnen Asyl gewährt wurde, zu fliegen.
Man könnte, wenn man einen gültigen Pass hat, einfach so zu einer Botschaft zu gehen und ein Schengenvisum zu beantragen. Wenn man denn einen Termin bekommt. Denn ohne Visum kein Flug! Doch selbst die meisten der ebenfalls glücklichen, die in Europa Personen oder Institutionen kennen, die sie offiziell einladen, für sie bürgen (eine Verpflichtungserklärung unterschreiben) und eine Versicherung abschließen und ihnen ein Rückticket buchen (ohne Rückticket kein Schengenvisum), bekommen in den meisten Fällen kein Visum mehr. Der häufigste Ablehnungsgrund, der einem an der deutschen Botschaft dann genannt wird, ist übrigens „mangelnde Rückkehrwilligkeit“.
Es gibt Büros im Libanon, die es sich teuer bezahlen lassen, falsche Beweise für diese Rückkehrwilligkeit auszustellen. Sie gründen zum Beispiel eine Phantom-Firma mit Phantom-Kapital in Beirut und dann wird ein Schengenantrag für eine Businessreise gestellt … So etwas klappt in den seltensten Fällen. In einem mir bekannten Fall kostete der Spaß 3000 Dollar. Irgendwann gibt derjenige auf und versucht, bevor der eigene Pass abgelaufen ist, in die Türkei zu fliegen, um von dort auf einem dieser Gummiboote illegal nach Griechenland zu einzureisen. Das ist die einzige Möglichkeit, an einen Ort zu kommen, wo die gesetzliche Grundlage besteht, im Zuge eines Prozesses, den man Asylverfahren nennt, Legalität in einem anderen Land als dem eigenen zu erhalten. Und dann geht es weiter, durch Wälder und Felder, eingepfercht in Kühltransportern über die berüchtigte Balkanroute nach Deutschland, Österreich oder Schweden, eben in Länder, von denen bekannt ist, dass man dort sich und seinen Kinder ein neues Leben aufbauen kann. Dass viele sich entscheiden, Frauen und Kinder nicht auf diese Art Reise mitzunehmen, und dass auch viele Mütter sich entscheiden, ihre Kinder nicht in auf irgendein Gummiboot zu setzen oder in einen Kühltransporter zu pferchen, finde ich durchaus nachvollziehbar. Dass sie stattdessen, wenn es finanziell irgendwie machbar ist, in einem der Nachbarstaaten Syriens ausharren, auf den Abschluss des Asylverfahrens des mutigen Familienmitglieds warten, das man vorgeschickt hat. Wenn dieser die Reise überlebt hat, kann derjenige sie dann per Familienzusammenführung ganz legal und auf sicherem Wege im Flugzeug nachholen. Diese Erklärung der Überzahl an Männern bestätigt auch das Bild, das sich einem vor der deutschen Botschaft in Beirut bietet: Dort sieht man fast nur Frauen am Schalter Schlange stehen, deren Männer es auf illegalem Weg nach Deutschland geschafft haben, und die sie jetzt per Familienzusammenführung nachholen können. Die Botschaft vergibt auch nur noch Visa zur Familienzusammenführung.
Fazitversuch
Jetzt habe ich das Gefühl, noch etwas Kluges zum Schluss sagen zu müssen. Irgendetwas in Richtung Lösungsansätze.
Ich mache es kurz. Politiker machen zur Zeit viele Vorschläge, wie Staaten der Flüchtlingskrise entgegenwirken sollten. Besonders dann, wenn gerade wieder etwas Schlimmes passiert ist. (Dass bei diesem Setting Schlimmes eigentlich absehbar ist, liegt auf der Hand.) Als man am 28. August 2015 71 in einem LKW erstickte Syrer fand, sprach schwer betroffen irgendeine EU-Politikerin, ich weiß nicht mehr, wer es war, im Fernsehen. Aufgebracht sagte sie, der Vorfall beweise erneut, dass man die Schlepper noch rigoroser bekämpfen müsse, denn die hätten schließlich den grausamen Tod dieser 71 Flüchtlinge auf dem Gewissen.
Ich finde den Gedankengang unlogisch. Mangels legaler Alternativen greifen fliehende Menschen gegen teures Geld auf in erster Linie gefährliche und in zweiter Linie illegale Reisemöglichkeiten zurück. Wenn man nun lediglich diese illegalen Reisemöglichkeiten bekämpft, ohne Alternativen zu schaffen, bezweckt man nicht den Tod dieser Menschen zu verhindern. Man versucht lediglich ihn weiter weg stattfinden zu lassan.
Wieso nicht einen anderen Weg verfolgen: Schafft man legale Einreisemöglichkeiten, wird den Schleppern ganz und gar der Markt entzogen, und es gibt keine Erstickten und Ertrunkenen mehr.
Dann gibt es noch einen Vorschlag, der immer wieder von vielen Politikern gemacht wird, diesmal zur Bekämpfung der Fluchtursachen aus den sicheren Nachbarländern, die ja so nett waren, so viele Syrer aufzunehmen: Man solle, anstatt so viele Leute in Europa aufzunehmen, die Nachbarstaaten stärker finanziell unterstützen und mit ihnen kooperieren. Diesem Vorschlag stehe auch sehr skeptisch gegenüber. Was bringt es, den Nachbarstaaten mehr Geld für die Versorgung der Flüchtlinge zu geben, wenn nicht absolut gewährleistet ist, dass sich zuallererst die dortige Gesetzeslage in Bezug auf Flüchtlinge ändert? Doch genau das halte ich für unwahrscheinlich, besonders bei einem in Flüchtlingsfragen historisch so derart dysfunktionalen Staat wie dem Libanon. So haben die 1948 in den Libanon geflüchteten Palästinenser bis heute noch weder Staatsbürgerschaft, noch sämtliche andere zivile Rechte und es gibt eine Liste von 25 Berufen, denen sie nicht nachgehen dürfen. Was würde es, ohne eine radikale Änderung der Gesetze, bedeuten, dem Staat mehr Geld zu geben und mit ihm zu kooperieren? Bestünde da nicht die Gefahr, dass die systematische Unterdrückung der SyrerInnen noch professioneller ausgeübt werden kann, durch verschärfte Kontrollen? Es könnte sich genau wie der Khartoum-Prozess und die Pläne in Bezug auf Eritrea entwickeln: Dort flirtet die EU mit dem Gedanken, mit dem Militärregime in Eritrea, vor dem die Menschen fliehen, beim Grenzschutz zusammenzuarbeiten, also dabei zu helfen, die Menschen dort einzusperren, wo sie verfolgt werden.
Zu guter Letzt: Auch wenn Bashar Al-Assad die vielen Flüchtlinge, die berichten, sie seien in erster Linie vor den Fassbomben und Foltergefängnissen seines Regimes auf der Flucht, der Lüge bezichtigt, auch wenn er im russischen Staatsfernsehen sagt, diese gerade eben in Europa gelandeten Flüchtlinge würden lediglich „westliche Propaganda“ verbreiten: Dass die Mehrheit der Geflüchteten, je nachdem woher sie kommen, entweder vor dem Regime oder vor dem IS und dem Regime gleichermaßen flieht, spiegelt sich auch in der Opferzahl wieder. So zählt das syrische Netzwerk für Menschenrechte, das Menschenrechtsverstöße, Gefangene und Opferzahlen lagerübergreifend dokumentiert, zwischen Januar und Juli 2015 1.131 durch den IS getötete und 7.894 von der Regierung getötete Personen. Das Verhältnis steht also 1 zu 6,9. Insofern halte ich auch bei dem schmerzhaften Gerede um die „Fluchtursachenbekämpfung“ die Fokussierung auf den IS und die Ausblendung der achtmal größeren Todes- und somit auch Fluchtursache, nämlich das Assad-Regime, für absoluten Irrsinn. Die oft vorgeschlagene Zusammenarbeit mit Assad in Sachen „Fluchtursachenbekämpfung“, kann ich, schon rein mathematisch, fast nur als vorsätzlichen Völkermord verstehen. Obwohl ich nicht gut rechnen kann, reichen für diese Rechnung selbst meine Fähigkeiten: Viele Menschen fliehen vor zwei Mördern. Sie fliehen zu uns. Der eine Mörder bringt siebenmal mehr Leute um als der andere. Wir wollen, dass weniger von diesen Menschen zu uns kommen. Also beschließen wir, mit dem Mörder, der siebenmal mehr Leute umbringt, zusammenzuarbeiten, damit weniger Menschen zu uns kommen. Ernsthaft?
Womit ich nicht suggerieren will, dass man mit dem anderen Mörder zusammenarbeiten sollte. Aber man sollte eben keinen Mörder einem anderen vorziehen. Erst recht nicht den größeren Mörder und erst recht nicht unter dem Motto: „Fluchtursachenbekämpfung“.
Sandra Hetzl im September 2015