30. August 2024: Dinçer Güçyeter wird Stadtschreiber von Bergen-Enkheim

An diesem Tag übernimmt Dinçer Güçyeter den Stadtschreiberposten in Bergen-Enkheim (Frankfurt) von Nino Haratischwili für ein Jahr, das ist eine große Auszeichnung. Hier etwas Presse

Literatur im Festzelt? Dinçer Güçyeter findet das großartig: „Es wird schön.“ Er bringt die Regeln gerne durcheinander, auch bei seinen Lesungen. „Ich erzähle gern, ich lese nichts vor“, sagt er im Hessencenter, in dem er sich als neuer Berger Stadtschreiber vorstellt: „Wie am Theater sollte jeder Abend ein bisschen anders sein. Ich gehe auf die Bühne, und es passiert was.“ Im Festzelt auf dem Berger Markt, in dem er am Freitag sein Amt von Nino Haratischwili übernimmt, wird er aber eine ausgearbeitete Antrittsrede halten, wie es üblich ist, seit die damals noch selbständige Stadt Bergen-Enkheim die Auszeichnung 1974 erstmals vergab und eine literarische Jobbeschreibung gegen sämtliche bis dahin übliche Regeln erfand, die ihr viele Kommunen seitdem mehr oder weniger erfolgreich nachgemacht haben. (…)

Er hat stets körperlich gearbeitet. Schon als kleiner Junge an der Seite seiner Mutter, die sich in der Fabrik und auf dem Feld abrackerte, weil die Kneipe seines Vaters schlecht lief, später beim Wechseln der Wäsche im Bordell, das ein Onkel aufgemacht hatte, noch später als Werkzeugmechaniker, der in die Lehre ging, gerade als er begonnen hatte, Gedichte zu schreiben, vor ein paar Jahren schließlich als Gabelstaplerfahrer, weil er rund um den Tod seines Vaters sein Leben umgekrempelt und 2011 den Elif-Verlag gegründet hatte, der bis heute besteht. Dabei war der Zusatzverdienst hilfreich. „Ich kenne sehr viele Kollegen, die nebenbei in einer Fabrik oder als Kellner arbeiten“, sagt Güçyeter: „Ich bin nicht der Einzige.“

Nach drei turbulenten Jahren hatte er sich in nächster Zeit Ruhe gönnen wollen. 2021 kam der Gedichtband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ heraus, für den er den Huchel-Preis erhielt, 2022 folgte der Roman „Unser Deutschlandmärchen“, für den ihm der Preis der Leipziger Buchmesse zuerkannt wurde. Viel Aufmerksamkeit und zahlreiche Termine waren die Folge. Vom Großwerden seiner 16 Jahre alten Tochter und seines 13 Jahre alten Sohnes habe er seitdem zu wenig mitbekommen, sagt er. Vor zwei Monaten ist er deshalb in das alte Haus seiner Großeltern an der türkischen Ägäisküste gefahren, ohne WLAN und Internet. Alle drei Tage machte er sich auf in die nahe Stadt und las E-Mails: „Manchmal hilft es sehr, auch mal nichts zu tun.“

Florian Balke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. August 2024

Florian Balke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. August 2024

Anfang Juli 2024 hatte er sich letztmals via Social Media an seine Freunde und Leser gewandt und angekündigt, sich für möglicherweise längere Zeit aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen – nach einer Tour mit rund 100 Auftritten rund um sein ErfolgsbuchUnser Deutschlandmärchen (mikrotext). Seinen ELIF Verlag, so schrieb er, wisse er in dieser Zeit in guten Händen. Nun also kommt er zurück vors Publikum, kündigte das selbst augenzwinkernd so an: „Ich verlasse für paar Tage meine Höhle.“ Der Posten als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim gilt als der erste und wichtigste Stadtschreiber-Preis in Deutschland. …

Güçyeter ist der 51. Literat, der die Stadtschreiber-Stelle antreten wird. Er wandere mühelos „zwischen zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Literaturgattungen hin und her“ und beobachte „mal mit kindlichem Staunen, mal mit nachdenklicher Melancholie, dann wieder mit Galgenhumor oder mit theatralischem Zorn das Geschehen und die Menschen um sich herum“, so formulierte die Jury, warum die Wahl auf ihn gefallen sei. Zugleich lobte sie, dass der 45-Jährige mit einer „Laterne aus Worten“ denjenigen eine Stimme gebe, die „oft mitten in unserer Gesellschaft im Verborgenen bleiben“.

Schöne Bücher, Lesetipps aus unabhängigen Verlagen, 29. August 2024
https://www.schoenebuecher.net/aus-der-hoehle-nach-hessen-dincer-guecyeter-tritt-als-stadtschreiber-in-bergen-enkheim-an/