Jesper Clemmensen
Die Entscheidung der Familie Sender
Reportage
Vor mehr als 40 Jahren: Im März 1977 flieht fünfköpfige Familie Sender aus der DDR in zwei Faltbooten über das Meer gen Dänemark. Was brachte sie zu dieser gefährlichen Entscheidung? Eine Reportage über eine tragische Flucht über die Ostsee.
3,99 €
„Da werden Helden des Alltags sichtbar, die sich nicht einschüchtern ließen von allen Geschützen, die die ostdeutsche Diktatur auffuhr.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung
„Gnadenlose Abrechnung mit einem gnadenlosen System.“
Ruth liest
„Über die menschliche Suche nach Freiheit.“
Weekendavisen
„Exzellent. Außergewöhnlich gut recherchiert, gut erzählt und gut geschrieben.“
Fyens Stiftstidende
Inhalt: Flucht über die Ostsee
Zwischen 1961 und 1989 versuchten mehr als 6.000 Ostdeutsche über die Ostsee zu fliehen. Oft waren die dänische Küste oder die Mannschaften dänischer Schiffe ihre Rettung. Nur einer Minderheit gelang die Flucht, weniger als 1.000 von ihnen konnten sich aus den Fängen der Diktatur befreien – Tausende kamen ins Gefängnis, und mindestens 174 Erwachsene und Kinder kamen bei Fluchtversuchen ums Leben. Diese Reportage ist die dokumentarische Nacherzählung einer der dramatischsten und tragischsten Fluchten über die Ostsee. Warum nahmen Menschen dieses Risiko auf sich? Unter welchem Druck stand das Ehepaar Sender? Ihre Geschichte, unter anderem mit Hilfe von Stasi-Akten rekonstruiert, liest sich wie ein Thriller.
Premierenlesung am 23. März 2017, 13 Uhr, Leipziger Buchmesse, Nordisches Forum: Halle 4/D300
Gespräch mit dem Autor am 24. März 2017, 14 Uhr, Leipziger Buchmesse, Nordisches Forum, Halle 4/D300
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8. März 1977, Heiligendamm an der Ostseeküste
Der Winter hat das Land noch immer nicht aus seinem eisigen Griff entlassen. Die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt, und der matschige Boden fühlt sich kalt an. Der Wind drückt die nackten Äste zur Seite und öffnet den Blick aufs Wasser, obwohl der Strand einen knappen Kilometer entfernt ist. Zu dieser Jahreszeit gehen keine Touristen, sondern nur Einheimische im Wald spazieren, der an der Küste entlang verläuft. Einer von ihnen hat die Polizei gerufen.
Erst am Nachmittag des zweiten Dienstags im März 1977 fährt ein weiß-grüner Wartburg mit blinkendem Blaulicht über den Sandweg. Er hält am Wald, die Beamten steigen aus und gehen zum Fundort. Der gestohlene Lastwagen steht leicht schräg am Waldweg geparkt, mit der Front in Richtung Strand. Unter der Plane auf der Ladefläche entdecken die Beamten drei Taschen mit Kleidung, darunter auch Pullover und Socken in Kindergrößen. Außerdem finden sie eine kleine und drei größere Matratzen sowie zwei Decken. Die Tür des Führerhauses ist nicht abgeschlossen, und der Schlüssel steckt immer noch in der Zündung, doch die Polizisten lassen ihn vorerst unberührt. Bei der weiteren Suche im Führerhaus taucht eine Monatskarte für den Schweriner Nahverkehr auf, die auf eine Person namens Sender ausgestellt ist. Der Fund wird gemeldet, und im Büro in Schwerin erhärtet sich der Verdacht auf Republikflucht.
Mitarbeiter der Staatssicherheit treffen am Fundort ein und fotografieren die Reifenspuren und den Lastwagen. Von vorne, von der Seite, von oben, vom Waldrand aus und aus beiden Richtungen des Weges. Sie fotografieren die Umgebung, die Zufahrtswege und den Strand. Schließlich entfernen sie den Schlüssel vorsichtig aus der Zündung und legen ihn in ein Einmachglas, das sie anschließend versiegeln. So können sie ihn jederzeit wieder herausholen, falls Spürhunde auf den Verbrecher angesetzt werden sollen. Oder sie können die Geruchsprobe in einer späteren Gerichtsverhandlung als Indiz gegen den Verbrecher nutzen. Doch zuallererst muss Sender gefunden werden.