Alexander Kluge
Die Entsprechung einer Oase
Essay für die digitale Generation
Alexander Kluge analysiert in seinem Essay die Möglichkeiten, das Internet kreativ zu nutzen und teilt seine persönlichen Erfahrungen: vom Gespräch mit seinen Kindern über Netzpoetik bis zu illegalen Kopien seiner Filme.
2,99 €
„Lesenswerter kleiner Essay.“
David Pachali, irights.info
„ A. Kluge gibt wunderbare Denkanstöße für die freie Distribution der jeweils eigenen kreativen, gedanklichen oder sonstigen Arbeiten und ihrer Ergebnisse, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass die KünstlerInnen und DenkerInnen mit ihren Werken auch ihren Lebensunterhalt verdienen wollen.“
Kundenrezension von S. Rödl, Amazon
Inhalt: Netzkritik
Alexander Kluge fordert den besseren Schutz der klassischen Öffentlichkeit, die, wenn sie einmal zerstört wäre, nicht wieder herzustellen sei, wünscht sich aber ebenso, die Arbeit von Journalisten, Bloggern, Musikern besser zu entlohnen. Seine Netzkritik: Eine neue Form der poetischen Öffentlichkeit könnte helfen. Sein Rat: trotz der Allmächtigkeit des Netzes und seiner dominierenden Akteure unabhängig bleiben. Ein Aufruf zur Selbstbestimmung, ein Verbündet euch!-Manifest und die Aufwertung der Praktiken einer digitalen Generation
Weitere Lektüren aus unserem Programm zu Internet und Gesellschaft: die persönliche Reportage von Sebastian Christ Mein Brief an die NSA, die Liebesbriefnovelle von Isabel Fargo Cole Ungesichertes Gelände, die nahphantastischen Erzählungen von Sina Kamala Kaufmann Helle Materie und der Essay in fünf Teilen Werbung für die Realität von der Philosophin Birthe Mühlhoff.
Stellen Sie sich vor, Sie durchwandern mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz. Dabei brechen Sie sich todsicher einen Arm. Und das merken Sie sich. Sie haben eine direkte Erfahrung gemacht. In einer Welt, die fast nur noch aus indirekten Erfahrungen besteht, zu 90 Prozent aus Fernseherfahrung, Leseerfahrung, Hörensagenerfahrung, ist unmittelbare Erfahrung ein knappes Gut, etwas sehr Wertvolles. Nach ihr wird man sich richten, sie prägt sich ins Gedächtnis ein. Damit ist die Erfahrung des Armbruchs wertvoll (auch wenn ich diese nicht vorsätzlich herbeiführen würde).
Zwei Karten übereinanderzulegen, die nicht zueinander passen, so dass eine ganze Menge nicht übereinstimmt, nennt man Crossmapping. Wenn wir Crossmapping machen können, ohne zu verunglücken, ist das über die Generationen hinweg eine gute Art der Kommunikation. Denn Ratschläge braucht die jüngere Generation von mir nicht. Sie besteht aus selbstständigen Menschen, zum Beispiel meinen eigenen Kindern, die selber wissen, was sie wollen. Warum sollte ich der nächsten Generation Forderungen nach etwas aufbürden, was ich selbst tun kann? Aber natürlich beschäftige ich mich mit ihren Vorstellungen und Gedanken; denn sie bieten mir einen Transfer. Sie haben andere Interessen und fordern mich damit heraus. Verwundert ändere ich meine Landkarten und fange an, darüber nachzudenken, was an meinen Koordinaten altertümlich ist.
Zu meinem Interesse an den Ereignissen in Syrien sagen sie vielleicht: „Das geht mich in meinem Leben nichts an. Mich interessieren ein Technokonzert unter freiem Himmel und Helge Schneider.“ Ich wundere mich, warum ich so gravitätisch an einem politischen Kontext, der wirklich nicht in Mitteleuropa spielt, festhalte – wahrscheinlich, weil 1946, als ich jung war, eine solche Betrachtungsweise üblich war – und ich merke, dies wandert aus dem Interessenskreis vieler jüngerer Menschen heraus. Das gibt mir zu denken, ohne dass ich meine Betrachtungsweise aufgeben muss. Nun habe ich zwei Stimmen. Musik wird, wenn Sie nur eine Melodie haben, nach einer Weile eher langweilig. Wenn Sie zwei Melodien haben, haben Sie Techno. Wenn Sie drei haben, kommen Sie der Polyphonie näher. Und so weiter. Wenn Sie siebzehn haben, hören Sie die einzelnen Stimmen nicht mehr, dann müssen Sie wieder auf den Boden zurück.
Dies sind einfache Bewegungen. Das gehört zum Erzählen. Diese Bewegungen machen junge Menschen meines Erachtens mit anderen Akzenten als meine Generation. Es ist aber nicht so, dass sie deshalb nicht zueinander passen. Die Information steckt ja in der Differenz, nicht in der Konsonanz. Wenn ich zu Ihnen „Guten Morgen“ sage, und Sie antworten mit „Guten Morgen“, dann ist der Informationsgehalt gering.
Im Internet, das zu einem Teil unseren Lebensstrom ausmacht, bewundere ich gerade diese Vielfalt, diese Dissonanz. Sie bringt allerdings jeden, der mit dem Internet umgeht, mit einem Teil seines Herzens dazu, zu sagen: „Eigentlich hätte ich gerne feste Punkte, die mit mir zu tun haben.“ Ich werde durch das Netz, durch das Zuviel dessen, was auf mich eindringt, wieder auf mein Ich zurückgeworfen. Um alles zu sehen, was mir dort entgegenkommt, was interessant ist daran, bräuchte ich 400 Jahre. Aber der Mensch hat nur eine Lebenszeit, die kann er nicht erweitern. Die wirkt sich auf jede einzelne Minute aus, die er vergibt. Er kann die Zeit seiner Aufmerksamkeit nicht vermehren. Demgegenüber steht die unglaubliche Vermehrung der Information und Partizipation, der Begegnungsmöglichkeiten mit anderen, sowohl Wissen wie Personen im Internet. In allen solchen Fällen, in denen das Objektive – ich nenne hier das Netz, obwohl es von Menschen gemacht ist, objektiv – zu einem Verhältnis zum Subjektiven steht, braucht das Subjektive eine Abgrenzung, ein Gefäß, wo es zu Hause ist. Ich muss für meine Erfahrung eine Wohnung suchen, denn in dem Häusermeer da draußen, kann sie nicht wohnen. So ungefähr ist das Verhältnis des Einzelnen zum Internet.
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