Priya Basil

Raum. Schaffen oder nehmen?

Zur Politik und Poesie des Raums

Das Wort Freiraum umschließt ganz unterschiedliche Konzepte, weit mehr als bloß den physischen Raum, es beschreibt auch einen mentalen Zustand der Kreativität und Freiheit. 1929 betonte Virginia Woolf, wie wichtig „ein eigenes Zimmer“ für den Erfolg einer Schriftstellerin sei: Freiraum, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, zum Denken und Gestalten. Fast ein Jahrhundert später ist ein eigenes Zimmer noch immer ein Privileg, nicht nur, aber vor allem für Frauen. Ein Virus, das keine Grenzen kennt, hat diese Ungleichheit noch einmal sichtbarer gemacht und damit auch den erbitterten Kampf um Raum und Teilhabe.

Mit Texten von Billy-Ray Belcourt, Besufekad, Intan Paramaditha und Adania Shibli. Aus dem Englischen, Indonesischen und Arabischen von Eva Bonné, Irina Bondas, Beatrice Faßbender, Gudrun Ingratubun und Günther Orth.

3,99 

3,99  E-Book
ISBN 978-3-948631-28-4
E-Book
13. Dezember 2021

Inhalt

Wem gehört der öffentliche Raum, welche Regeln gelten und wie werden sie überwacht? Unausgesprochene Fragen, die weltweit zu einem Erstarken von Gated Communities und andere Formen der sozialen Segregation führen. Wer darf den öffentlichen Raum für sich beanspruchen und definieren? Wessen Regeln bestimmen, wie Raum genutzt und geteilt wird? Wie prägt unsere Identität unsere Raumerfahrung?

Die vier internationalen Autor·innen Billy-Ray Belcourt, Besufekad, Intan Paramaditha und Adania Shibli haben 2021 am digitalen Residenzprogramm des LCB teilgenommen und den Begriff des Raums in Gesprächen und im Schreiben erkundet. Die digitale Residenz wurde von Priya Basil kuratiert und vom Auswärtigen Amt gefördert.

Premiere

13. Dezember 2021, 21 Uhr: Lesungen und Diskussionen mit Billy-Ray Belcourt, Intan Paramaditha and Adania Shibli. Moderation: Priya Basil. In englischer Sprache. LIVESTREAM auf lcb.de.

Mamas Zimmer

Von Intan Paramaditha

Ich erinnere mich, wie das blaue Krankenbett aus Mamas Zimmer ins Wohnzimmer geschoben wird – mit Blick auf den Fernseher, dahinter die eingestaubte Vitrine mit der Keramik und den alten Puppen, schäbig und trostlos. Alles steht dicht gedrängt: das zerkratzte Ledersofa, der Wohnzimmertisch voller Medikamente, Vitamine, Salben und einem Wasserkrug, außerdem ein Klappstuhl neben dem Krankenbett, auf dem für gewöhnlich die Pflegerin sitzt. Nicht weit vom Fußende des Bettes entfernt steht ein runder Esstisch aus Marmor, der in den 80ern modern gewesen war, inzwischen aber seinen Glanz verloren hat. Auf dem Tisch ein Blender, mit dem Kabel an eine Steckdose angeschlossen, oft ungespült für mehrere Stunden.

Nachdem die Pflegerin meiner Mutter die Windeln gewechselt und sie gefüttert hat, setzt sie sich wieder auf den Klappstuhl, wischt sich den Schweiß ab. Dann fächelt sie sich mit einem dünnen Buch in der linken Hand Luft zu, während ihr rechter Daumen auf dem Smartphone hoch- und runterscrollt. Sonntags, wenn sie frei hat, sitze ich dort. Durch das Bett fühlt sich der Raum eng und stickig an, aber Mama möchte nicht in ihrem Zimmer gepflegt werden.

„Ich will nicht allein sein, Muti“, sagt sie.

„Du wirst nicht allein sein“, erwidere ich.

Meine Mutter besteht auf ihrem Platz im Wohnzimmer. Also liegt sie hier, schaut an die Decke, während sie dem Fernseher zuhört. Wenn die Pflegerin damit beschäftigt ist, das Essen zuzubereiten, sitze ich neben meiner Mutter und erledige meine Büroarbeit am Laptop auf meinem Schoß, bis meine Oberschenkel heiß werden.

Mama kommentiert die Nachrichten im Fernsehen. Doch schon bald fordert sie mich auf, die anderen Sender nach einer Seifenoper zu durchsuchen. Wenig später wünscht sie wieder Nachrichten, dann wieder eine Seifenoper, Nachrichten, Seifenoper. Dann flucht sie – wie das bei melodramatischen Serien so ist – und bittet mich schließlich, den Fernseher auszuschalten. Ich bin jedes Mal erleichtert, wenn sie einschläft. Ich betrachte ihre geschlossenen Augen und ihre halb geöffneten trockenen Lippen, dann wende ich mich wieder meinem Bildschirm zu. Nur für einen kurzen Moment. Denn nach zehn Minuten wacht sie wieder auf und bittet mich, ihr aus dem Koran vorzulesen. Ich lese wahllos eine Sure, und sie schließt die Augen. Nach etwa fünfzehn Minuten beginnt meine Stimme sie zu langweilen. Sie bittet mich, eine Aufnahme des Thronverses aus der zweiten Sure des Korans auf YouTube laufen zu lassen. Es ist zu leise, also soll ich es lauter stellen. Wenig später muss ich es wieder leiser machen, lauter, leiser, lauter, ganz aus.

„Alle sind schon gestorben“, sagt sie, „nur ich noch nicht.“

(…)

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Die Herausgeberin, die Autor·innen

Priya Basil ist Schriftstellerin und Aktivistin. In ihrem Buch „Gastfreundschaft“ (Suhrkamp, 2019) verbindet sie Geschichten über die indisch-kenianischen Traditionen ihrer Familie, ihr britisches Erbe und das Leben in Deutschland zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für ein gastfreundliches Europa. Ihre Essays sind in Lettre International, Die Zeit und The Guardian veröffentlicht worden. Sie ist Mitbegründerin der NGO WIR MACHEN DAS. Priya Basil sitzt im Beirat des European Centre for Constitutional and Human Rights und ist Initiatorin der Kampagne Der 9. Mai – Ein Feiertag für Europa. Ihr Film-Essay Eingeschlossen / Ausgeschlossen, der die Fragen rund um Staatsbürgerschaft, Kolonialität und Erinnerungskultur erkundet, hatte im Dezember 2020 bei der digitalen Eröffnung des Humboldt-Forums Premiere und ist nun auf YouTube zu sehen. Ihr neuestes Buch Im Wir und Jetzt: Feministin werden (Suhrkamp, 2021) verbindet wiederum kraftvoll das Persönliche mit dem Politischen.

Billy-Ray Belcourt ist Schriftsteller und Wissenschaftler und gehört der indigenen Bevölkerungsgruppe Driftpile Cree Nation an. Zurzeit ist er Juniorprofessor für indigenes kreatives Schreiben an der University of British Columbia, Vancouver. Sein Lyrikdebüt This Wound is a World (Frontenac House, 2017) wurde 2018 mit dem Canadian Griffin Poetry Prize, dem Robert Kroetsch City of Edmonton Book Prize und dem Indigenous Voices Award ausgezeichnet. Für seinen zweiten Lyrikband, NDN Coping Mechanisms: Notes from the Field (House of Anansi, 2019) erhielt Belcourt 2020 den Stephan G. Stephansson Award for Poetry. Sein neustes Buch A History of My Brief Body (Hamish Hamilton, 2020) ist eine Sammlung von Essays über Trauer, koloniale Gewalt, Freude, Liebe und Queerness.

Besufekad ist aus Äthiopien und lebt in Addis Abeba. In dem Beitrag für diese Anthologie, der am 21. November 2021 geschrieben wurde, während der Krieg in Äthiopien sich Addis Abeba näherte, bemüht sich Besufekad, die Ereignisse einzuordnen, findet und bietet jedoch nur einige Zeilen, die helfen könnten durchzuhalten. Besufekad hat sich dazu entschieden, unter Pseudonym zu veröffentlichen, um die politische Polarisierung zwischen Führern und Personen des öffentlichen Lebens zu vermeiden, die verschiedene Gruppen von Äthiopierinnen und Äthiopiern repräsentieren.

Intan Paramaditha ist Schriftstellerin und Dozentin. 2018 erschien ihre Kurzgeschichtensammlung Apple and Knife. Ihr Roman The Wandering (Harvill Secker, 2020, aus dem Indonesischen übersetzt von Stephen J. Epstein) wurde für den Stella Prize in Australien nominiert und mit dem Tempo Best Literary Fiction Preis in Indonesien, dem English PEN Translates Award und dem PEN/Heim Translation Fund Grant ausgezeichnet. Ihr Essay On the Complicated Questions Around Writing About Travel wurde für die Anthologie The Best American Travel Writing 2021 ausgewählt. Sie hat einen Doktortitel der New York University und lehrt Medien- und Filmwissenschaft an der Macquarie University, Sydney.

Adania Shibli, geboren 1974 in Palästina, schreibt Romane, Theaterstücke, Kurzgeschichten und erzählende Essays. Sie wurde für zwei ihrer Romane mit dem Qattan Young Writer’s Award-Palestine ausgezeichnet, 2001 für Masaas (Eng. Touch, Clockroot, 2010) und 2003 für Kulluna Ba’id bethat al Miqdar aan el-Hub (Eng. We Are All Equally Far from Love, Clockroot, 2012). Zuletzt erschien ihr Roman Tafsil Thanawi (Dt. Eine Nebensache, Berenberg Verlag, 2022), der 2020 für den National Book Award und 2021 für den International Booker Prize nominiert wurde. Seit 2012 unterrichtet Shibli regelmäßig an der Birzeit University, Palästina. Im Herbst 2021 wurde sie als Friedrich Dürrenmatt-Gastprofessorin für Weltliteratur an die Universität Bern eingeladen.

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